Kalt ist der Abendhauch
Rücken hinunter, wenn ich an jene menschliche Mumie denke, die hoffentlich erst nach meinem Ableben ihr steinernes Gefängnis verlassen wird. Es hatte mir neulich gar nicht gefallen, daß die beiden Architektinnen just for fun einen Grundriß meines Häuschens aufzeichneten. »Haben Sie das Haus fertig gekauft oder nach eigenen Wünschen bauen lassen?« fragte Susi.
»Solche Eigenheime waren schon eine Art Fertighäuser«, sagte ich, »gedacht für junge Familien, sehr billig und vom Staat gefördert. Mein Mann bekam als Junglehrer ein Darlehen und von seinem Großvater ein kleines Erbe. Zusammen mit meiner Mitgift reichte es so eben für dieses Haus, wir hatten sogar die Möglichkeit, es später zu vergrößern.«
Speedy hätte mir die Hasenpfote gern abgeluchst, aber nun ist es genug: Huldas Kleid, die Silberlöffel und einen ganzen Batzen Geld haben sie schon eingesackt, das reicht.
»Richtig«, sagt Hulda, »außerdem brauchst du ihnen nicht alles zu erzählen. Aber mir kannst du beichten. Du hast also deinen Lehrer geheiratet, war der nicht bereits vergeben?«
Hulda entgeht nichts, sie ist eine aufmerksame Zuhörerin. Natürlich war es nicht der Lehrer aus meiner Handelsschule, sondern ein völlig anderer. 1937 war ich bereits sechsundzwanzig Jahre, für damalige Zeiten fast ein spätes Mädchen. Auch Fanni hatte noch keinen Mann gefunden, und meine Mutter begann sich Sorgen zu machen. Vater hatte seinen ersten Schlaganfall erlitten, und Ida half wieder halbtags im Geschäft - schließlich war Heidemarie schon zehn Jahre alt, und weitere Kinder waren nicht gekommen.
Ich lernte Bernhard bei der Schulabschlußfeier von Alice kennen. Meine jüngste Schwester hatte es tatsächlich als einzige der Familie erreicht, ihren Willen durchzusetzen und Matur zu machen. Vaters Schwäche kam ihr zu Hilfe, er hatte keine Lust mehr zum Diskutieren. »Macht doch, was ihr wollt«, war seine Devise seit Alberts Tod.
Bernhard Schwab war wenige Jahre älter als ich und unterrichtete Latein und Deutsch. Wir heirateten drei Monate nach dem ersten Treffen, und zwar aus dem einzigen Grund, weil wir uns nichts anderes vorstellen konnten. Vater hat anläßlich der großen Feier unmäßig getrunken und geschlemmt, der zweite Schlaganfall traf ihn wenige Tage nach meiner Hochzeit. Er lebte nicht mehr lange.
»Und Hugo?« fragt Hulda.
»Der hat sich an meiner Hochzeit auch vollaufen lassen«, sage ich nachdenklich. Hugo war wohl auch der Grund, warum ich selbst relativ spät und kurz entschlossen geheiratet habe. Mein Ehemann konnte Hugo nicht das Wasser reichen, er besaß weder Charme noch Originalität. Bernhard war zwar ein lieber Kerl, aber von langweiliger Besserwisserei durchdrungen. Er konnte nicht anders, er mußte mir ständig widersprechen, nur in den verliebten Anfängen war er mit wunderbarer Sprachlosigkeit geschlagen.
Hulda ist neugierig. Gab es davor denn keinen einzigen Freund, nur backfischhafte Schwärmereien für zwei verheiratete Männer? Doch, Hulda, da waren noch einige Poussierstengel, wie mein Vater sie nannte, Kollegen aus der Bank oder Brüder von Freundinnen, mit denen ich gelegentlich ausging. Etwas heftiger küßte ich mich mit einem jungen Journalisten, den mir Heiner zugeführt hatte. Ansonsten war ich bei meiner Heirat noch reichlich unerfahren.
»War es eine gute Ehe?«
»Ach Gott, Hulda, du kannst Fragen stellen! Was verstehst du überhaupt davon. Nach neun Jahren war ich Witwe, und von dieser kurz bemessenen Zeit hatte ich nur die ersten zwei Jahre ständig mit Bernhard zusammengelebt. Bei Kriegsausbruch brachte ich Veronika zur Welt, bald darauf wurde Bernhard eingezogen, 1940 kam das zweite Kind, unser Sohn Ulrich. Ich hatte ganz andere Sorgen als meine Selbstverwirklichung, wie sie es heute nennen.«
»Was für Sorgen, Oma?« fragt Felix.
»Daß ihr nicht fertig seid, wenn Hugo kommt«, sage ich geistesgegenwärtig. Ständig werde ich von jungen Leuten erschreckt, die, ohne anzuklopfen, hinter mir stehen. Ich muß mich vorsehen, die Selbstgespräche sind mir allzusehr zur Gewohnheit geworden. Es gibt Dinge, die hören niemals auf zu schmerzen, aber wen geht es etwas an?
»In einem halben Jahr haben wir deinen Schuppen in eine Luxusvilla verwandelt«, scherzt Felix, »Hugo wird Augen machen. Vielleicht beißt er an, der alte Knabe!« Er umarmt mich. »Oma, wahrscheinlich sind wir schon übermorgen fertig. Du willst uns wohl loswerden, um das junge Glück ohne Zuschauer zu genießen ...
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