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Kalt ist der Abendhauch

Kalt ist der Abendhauch

Titel: Kalt ist der Abendhauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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buckligen Vetter mit einem Pferdegespann
    Kartoffeln, Kohlköpfe, Eier und gelegentlich eine Speckseite. Trotzdem ging es uns miserabel.
    Als der Krieg zu Ende war, erkrankten meine Kinder an Typhus. Wir waren trotz der bäuerlichen Spenden abgemagert und froren selbst im Sommer. Ich machte kilometerlange Märsche, um meine handbestickte Aussteuerwäsche gegen Milch für die Kinder einzutauschen. Vorübergehend wohnte meine ausgebombte Freundin Miele samt ihren Eltern bei mir.
    Eines Tages stand Hugo hier vor der Tür. Er war aus einem Gefangenenlager entlassen worden und suchte seine Familie. Wir schlossen uns weinend in die Arme, aber er blieb nur wenige Stunden. Wir weinten darüber, wie elend der andere aussah, aber es waren auch Tränen der verpaßten Liebe.
    Drei Wochen später traf Hugo, etwas aufgepäppelt, wieder hier ein. Er brachte einen Rucksack voller Äpfel und einen Klumpen Quark mit. Heidemarie sei gesund und kräftig, Ida mache ihm dagegen Sorgen. Sie leide unter einer hartnäckigen Augenentzündung und sei völlig mutlos. Dennoch redete sie Hugo zu, den Schuhhandel wieder in Gang zu bringen. Es war nämlich so, daß unter den Trümmern am Darmstädter Markt das große Lager im Keller mit einem für diese Zeiten unbezahlbaren Vorrat an Schuhen unversehrt geblieben war. Die Kisten mit dem Familiensilber und anderen Schätzen sollten aus dem Luftschutzkeller geholt und bei mir in Sicherheit gebracht werden.
    Hugo begann, mit einem Fahrrad über Land zu ziehen und Schuhe gegen Lebensmittel, Brennmaterial, Seife oder Glühbirnen einzutauschen. In seinem verspritzten Kleppermantel und mit dem schmierigen Rucksack stellte er sich allabendlich wieder bei mir ein. Der Handel lief gut, Hugo konnte sogar zwei Paar solide Winterschuhe gegen einen rostigen zweirädrigen Fahrradanhänger eintauschen. Am
    Wochenende fuhr er zur Familie aufs Land, wobei er mir großzügig die Hälfte der erbeuteten Ware zurückließ. Den Kindern ging es langsam besser, aber sie waren matt und brauchten viel Schlaf.
    Es bot sich an, daß Hugo bei mir wohnte. Das Schuhdepot lag in der Nähe, als Ausgangspunkt für Hugos Reisen war mein Haus viel geeigneter als Ernst Ludwigs abgelegener Hof, wo Ida mit der Tochter hingegen gut untergebracht war. Meine Schwester war dankbar, daß ich für Hugo kochte und wusch, und hielt es für ganz normal, daß er dafür auch ein wenig für mich und die Kinder mitsorgte. Im übrigen waren die Schuhe gewissermaßen Familienerbe. Alice, die in einem Gießener Krankenhaus arbeitete, bekam gelegentlich auch eine Zuwendung. Sie schickte ihrerseits Medikamente für meine Kinder und Ida.
    Eines Nachts legten Hugo und ich uns schließlich mit großer Selbstverständlichkeit zusammen ins Ehebett. Es war kein plötzlicher Entschluß, geschah nicht aus himmelstürmender Verliebtheit, sondern aus einem glücklichen, heiteren Zusammengehörigkeitsgefühl heraus. Unsere Liebe war zwar zart und unpathetisch, aber stabil, wie ich glaubte.
    »Wenn es Ida bessergeht und ich mir wieder eine Existenz aufgebaut habe, lasse ich mich scheiden«, sagte Hugo.
    Wir waren sehr glücklich. Den Gedanken an meine kränkelnde Schwester verscheuchte ich.
    Im Augenblick gab es keine Möglichkeit für Hugo, wieder als Buchhändler zu arbeiten, aber es ging bestimmt bald aufwärts. Wir beide gehörten für immer zusammen, meine Kinder liebten ihn. Seine eigene Tochter Heidemarie war nun bereits siebzehn und hatte leider weder Idas Schönheit noch Hugos Charme geerbt. Hugo hatte eigentlich nur ihr gegenüber Schuldgefühle, weil er der armen Heidemarie, der er einen so kitschigen Namen gegeben hatte, eine anregendere Umgebung hätte bieten wollen als einen abgelegenen Bauernhof. Aber auch in Darmstadt hatten die Menschen ums Überleben zu kämpfen und anderes im Kopf als Kunst und Literatur. Hugo tauschte dennoch hin und wieder ein Paar Schuhe gegen Bücher ein, was man damals nur für die Tat eines Wahnsinnigen halten konnte.
    Nach einem Jahr war der Vorrat an Schuhen aufgebraucht. Aber es ging uns in jenem eiskalten Winter 1946 besser als vielen anderen. Hugo hatte seine Fühler schon beizeiten ausgestreckt und hielt sich mit diversen Schwarzmarktgeschäften, illegalen Vermittlungen und Gelegenheitsarbeiten über Wasser. Wir hatten genug zu essen und zu heizen, für damalige Verhältnisse. Mein Schwager und Geliebter arbeitete sogar am Wiederaufbau einer Schule mit, wo er Betonmischen und Mauern lernte und richtig Muskeln bekam.

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