Kalt ist der Abendhauch
Amerikanerin und bittet Tanja darum, einen Moment ihr Baby zu halten, das beim Anprobieren störe. Meine Begleiterin hält bewundernd ein farbiges Kind auf dem Arm, die Mutter verschwindet in einer der vielen Kabinen und taucht zu unserem Befremden nicht wieder auf. Schließlich sieht Tanja unter alle Vorhänge und sucht vergeblich nach dunklen Beinen.
»Wir behalten die Rumkugel einfach«, scherzt sie, und ich stelle mir Hugos Verblüffung vor, wenn ich ihm ein Negerbaby präsentiere; in diesem Moment kommt die Kindsmutter zurück und entschuldigt sich höflich.
Endlich entdeckt Tanja ein Kleid in der Teenagerabteilung, das mir paßt. Kleine hellblaue Streublümchen, Puffärmel und ein braver weißer Kragen stehen sowohl einer Vierzehn- als auch einer Achtzigjährigen. Wir sind alle erleichtert, dann fährt mich Tanja zum Friseur und läßt sich ebenfalls die Haare schneiden -mein Dankeschön für ihre Geduld.
Ach Hugo, in jungen Jahren mag ein Nachmittag, der
Erst gegen fünf Uhr bin ich eingeschlafen, jetzt i
Tochter noch meinen Enkel etwas angehen. Es wird s
Ach Hugo, in jungen Jahren mag ein Nachmittag, der ausschließlich der Verschönerung dient, genußvoll sein, jetzt ist er so anstrengend wie ein langer Marsch durch Wüstensand. Wehe, du siehst mich nicht mit bewundernden Augen an.
Im Auto komme ich auf ihren angejahrten Liebhaber zurück. »Meine Enkelin Cora hat einen reichen Mann geheiratet, der gut und gern ihr Vater sein könnte. Sie ist in Ihrem Alter und bereits Witwe.«
Tanja schweigt und verstellt den Rückspiegel, um ihre neue Frisur bewundern zu können. Sie hat sich die langen Haare ganz kurz schneiden lassen. Ständig zündet sie sich eine neue Zigarette an, in den unmöglichsten Verkehrssituationen, anstatt die Hände am Steuer zu lassen. Ich habe für uns beide das gleiche Parfüm gekauft, Hugo liebte früher Je Reviens: »Fabelhaft«, pflegte er zu sagen. Als Miele ihn in späten Jahren verführte, schenkte er ihr allerdings Maiglöckchenduft, wie sie mir selbst gestand. Es tat weh damals, aber ich hatte kein Recht, es ihr übelzunehmen.
Felix spottet natürlich, als ich heimkomme, setzt mir eine Sonnenbrille auf und sagt »Greta Garbo«. Speedy lenkt von mir ab, weil er Tanjas Frisur umwerfend findet; dabei dachte ich immer, Männer liebten lange Mähnen. Hoffentlich umwirbt er sie erfolgreich. Später höre ich, wie sie Felix nach seiner Kusine Cora ausfragt.
»Ein arrogantes Luder«, sagt er, »aber ein Haus in der Toskana ist nicht zu verachten.«
Morgen werden sie wahrscheinlich fertig, ich bin fast ein wenig traurig, aber auch sehr erleichtert. Wohn-, Schlaf- und Badezimmer sind gestrichen, geputzt und aufgeräumt. Die Küche strahlt sonnengelb, Flur und Abstellkammer nehmen sie sich heute vor. Felix hat noch allerhand Gerümpel nach oben getragen. Wie es dort aussieht, ist mir völlig gleichgültig - nach mir die Sintflut.
»Du hast übrigens Post, Oma«, höre ich. Wer mag mir geschrieben haben (etwa Cora, über die ich gerade gelästert habe)?
Hugo hat auf eine Karte (ohne Anrede und Unterschrift) gekritzelt: Ich reise. Alles, was lange währt, ist leise.
Ringelnatz. Wie wunderbar konnte Hugo Kuttel Daddeldu oder das Abendgebet einer erkälteten Negerin zitieren. Wir stritten uns über die Zeile: »... drüben am Walde kängt ein Guruh...« Ich meinte: »Warte nur, balde ruhst auch du, mein Guruh.« Hugo war anderer Meinung: »Die Katze jungt, das Guruh kängt.« Es war eines unserer Lieblingsspiele, Fetzen aus Gedichten richtig einzuordnen. Wir hatten beide einen stattlichen Vorrat im Kopf.
Weiß Hugo noch, wie das Gedicht auf seiner Karte weitergeht?
Die Zeit entstellt
Alle Lebewesen.
Ein Hund bellt.
Er kann nicht lesen.
Er kann nicht schreiben.
Wir können nicht bleiben.
Schlaflos liege ich im Bett. Das Eiserne Kreuz in der Pralinenschachtel hat vieles wieder aufgewühlt. 1943 wurde ich plötzlich zur Witwe mit kleinen Kindern: Veronika war vier, Ulrich erst drei Jahre alt. Mein Elternhaus war zerstört; Mutter, Ida und Heidemarie wohnten zusammen mit vielen Flüchtlingen auf dem Bauernhof, den mein ältester Bruder erheiratet hatte. Ernst Ludwig war gefallen, meine Schwägerin, die ich für ein nationalsozialistisches Bauerntrampel gehalten hatte, entpuppte sich als Mutter Courage. Angesichts des Massensterbens junger Männer hatte sie ihre Weltanschauung gründlich revidiert und zeigte Größe im Organisieren und Teilen. Selbst mir schickte sie durch einen
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