Kalt ist der Abendhauch
Spuk vorbei war, bekam sie einen hysterischen Anfall.
Der verdatterte Hugo wurde mit einem Wurfgeschoß begrüßt - einer Galle-Vase seiner Eltern, weil sich Ida auch im größten Zorn nie an der eigenen Mitgift vergriff. Nachdem er meine Schwester etwas beruhigt hatte, ließ sich Hugo seine angebliche Geliebte beschreiben. Sie war und blieb ihm völlig fremd. Es dauerte sehr lange, bis sie auf die Idee kamen, Idas Schmuckkassette zu suchen. Auch aus Hugos Schreibtischschublade fehlte ein Umschlag mit Bargeld. »Eine geistesgegenwärtige Einbrecherin«, beendet Hugo seine Geschichte.
»Wieviel Uhr ist es jetzt?« fragt er, erheitert über seine eigene Anekdote, die ihm äußerst flüssig über die Lippen gekommen ist. Es ist drei, und wir haben alle beide die Pillen vergessen. Nebenbei bemerkt, behagt mir die von Heidemarie aufgebürdete Pflicht wenig. Eigentlich sollte Hugo die Verantwortung für seine Gesundheit selbst übernehmen. »Ach Charlotte, du bist immer noch so rigoros«, sagt er, »für dich gibt es nur ja oder nein, gut oder böse, immer oder nie; wir sollten uns gegenseitig ein wenig unterstützen, der eine kann vielleicht dies, der andere jenes noch ein bißchen besser... «
»Der Blinde trägt den Lahmen«, sage ich kühl, denn ich ahne, wer die bequemere Rolle bekommt.
»Wenn Heidemarie länger in München bleiben will«, fährt Hugo fort, »dann könnte ich doch oben in einer der Mansarden schlafen. Ich würde dir sicherlich keine Extraarbeit machen. Für das gesparte Geld könnten wir uns täglich ein gutes Essen leisten.«
Morgen erwarte ich Regine und Felix, ich habe sie ganz offiziell eingeladen. Sicherlich würden sie mit anpacken und ein Zimmer für Hugo herrichten. Aber die steile Stiege?
»Gefällt es dir nicht im Hotel?« frage ich.
»Doch, es ist in Ordnung, aber gemütlicher wäre es natürlich bei dir. Außerdem könnten wir dann den ganzen Tag beisammen sein, und das wünschen wir uns doch beide. Ich denke, wir haben viel nachzuholen.«
Kann man noch etwas nachholen? frage ich mich. Wir waren Freunde, wir haben uns geliebt, wir haben uns Briefe geschrieben. Allerdings gab es immer wieder lange Pausen. Jetzt geht unser Leben dem Ende zu.
»Ich habe mich so nach dir gesehnt«, sagt Hugo. Ich nicke, aber ich bringe solche Geständnisse nicht über die Lippen. Es ist Frühling, wird sich jetzt alles, alles wenden?
Hugo macht Pläne: »Wenn ich schon mal in Darmstadt bin, will ich unbedingt dem Langen Lui guten Tag sagen, außerdem müssen wir auf den Friedhof.«
Müssen wir? Ohne die gewohnte Siesta bin ich auf einmal sehr müde. Hugos und meine Eltern, unsere Geschwister und die meisten Jugendfreunde liegen auf dem Waldfriedhof begraben. Felix könnte uns bestimmt hinfahren. Sollen wir unsere eigenen Grabsteine oder lieber ein kleines Stückchen Zukunft entwerfen?
»Was würdest du mir aufs Grab schreiben?« frage ich Hugo und erwarte ein romantisches Gedicht.
Aber Hugo setzt zu einer Rede über Henriette Caroline, einer Förderin der Musen an. Als die Landgräfin 1774 starb, ließ ihr Friedrich der Große auf den Grabstein meißeln:
FEMINA SEXU, INGENIO VIR.
Von Geschlecht eine Frau, von Geist ein Mann.
Ob das nicht auch auf mich zutreffe?
Obgleich der schöngeistige Preußenkönig es damals wohl als Kompliment gemeint hatte, gerate ich in Harnisch.
Hugo grinst, als er meine leidenschaftlichen Attacken auf die männliche Überheblichkeit zu hören bekommt.
Obwohl ich nicht hungrig bin, gehen wir um sechs ins Hotel und bestellen ein Menü. Spargelsuppe, Zunge in Madeira, Pfirsich Melba. Natürlich bleibt die Hälfte übrig, es ist ein Jammer. Soll ich mir das restliche Fleisch »für meinen Hund« einpacken lassen? Hugo hält das sicherlich für unfein, in seinen besten Frankfurter Jahren war er fast ein Lebemann und pflegte im Hessischen Hof zu speisen.
Morgen muß ich frisch sein, um acht bestelle ich mir ein Taxi und fahre heim. Heidemarie wird sich wieder melden, Regine und Felix wollen kommen. Es tut gut, kein Wort mehr zu reden, auch nicht mit Hulda. Wo ist sie überhaupt? Als ich die Bettdecke aufschlage, liegt sie gemütlich in meinem Nest; Hugo hat mir einen Streich gespielt. Soll ich diese Idee lustig finden, infantil oder gar senil? Ich beschließe, mir darüber keine Gedanken zu machen. Um neun liege ich im Bett, es geht mir so allerlei durch den Kopf, vor allem die Vergangenheit.
Antons Unfall setzte meinen Liebesreisen nach Frankfurt ein Ende. Antons
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