Kalt ist der Abendhauch
rücke ich mit meiner Sensation heraus. Leider habe ich mir die Wirkung gewaltiger vorgestellt.
Regine und Hugo geben sich die Hand und haben nichts kapiert.
»Felix, das ist dein Opa...«
Der Junge ist sonst nicht schwer von Begriff, aber jetzt sehe ich, wie er voller Unbehagen zu seiner Mutter schielt. Alle glauben, die Altersdemenz habe mich erwischt.
Nach umständlichen Erläuterungen meinerseits ist es Hugo, bei dem zuerst der Groschen fällt. »Kolossal«, sagt er und strahlt.
Regine heult, Felix fühlt sich überflüssig.
Vielleicht war es doch nicht richtig, alle auf einen Streich aufzuklären, ich hätte sie mir lieber einzeln vorknöpfen sollen.
Felix holt die Kaffeekanne aus der Küche, streicht seiner Mutter übers Haar, schneidet den Kuchen und macht sich allenthalben nützlich.
Ich lege zaghaft den Arm um meine weinende Tochter. »Aber Onkel Anton war doch mein Vater«, schluchzt sie, »und Tante Ida lebte damals noch... «
Nun wird es Hugo mulmig, und er wendet sich Felix zu. »Ich habe mir immer einen Sohn gewünscht«, sagt er.
»Wenn denn alles stimmt«, sagt Felix vorsichtig, »dann bin ich Ihr Enkel.«
»So wahr ich hier stehe, das bist du«, sagt Hugo.
Als Regine endlich ausgeheult hat, wird der Sekt aufgemacht. Allerdings rühre ich ihn nicht an, weil ich bei Hugos Ankunft geradezu filmreif aufstoßen mußte. In diesem Punkt kam mir seine Schwerhörigkeit entgegen. Wenigstens er scheint sich zu freuen, fragt nach dem genauen Geburtsdatum seiner Tochter und rechnet herum, wie ich seinen flüsternden Lippen und auf den Tisch tippenden Fingern entnehme.
»Und, Junge«, sagt Hugo, »hast du ein Mädchen?«
Felix zwinkert mir zu und muß lachen. »No problem«, sagt er; »sie heißt Susi«, ergänze ich stolz.
Hugo sieht sich bemüßigt, eine patriarchalische Rede zu halten, die in der Feststellung gipfelt: »In deinem Alter war ich bereits Familienvater!« Und er schließt mit den vielsagenden Worten: »Allzuviel ist ungesund.«
Felix weiß eine Antwort, die das Eis endgültig bricht: »Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche.«
Regine ist zuweilen von plumper Offenheit, ich weiß gar nicht, von wem sie das hat. Obgleich ich doch bereits geständig war, läßt sie sich noch einmal bestätigen, daß Hugo seine Ida betrogen hat, ich meinen Anton. Gerade Regine hat es nötig, die Moralistin zu spielen, nachdem sie selbst ihren Mann sitzengelassen hat. Um nicht loszuheulen, gehe ich in die Küche.
Als ich wieder hereinkomme, fragen Hugo und Regine gleichzeitig: »Und warum erfahren wir das alles erst heute?«
Weil ich anfangs zu stolz und später zu feige war.
Felix ist feinfühliger. »Ich glaube, die beste aller Großmütter sollte sich ein bißchen hinlegen, schaut mal, wie erschöpft sie ist.«
Alle starren mich an.
Ich schüttle den Kopf, diesen Tag werde ich auch noch überstehen. »Apropos Großmutter«, sage ich, »Regine, du wirst Augen machen!«, und ich schlage das Familienalbum auf. Ein bißchen unangenehm ist es zwar, daß ich ausgerechnet Idas großformatiges Hochzeitsfoto herausnehmen muß. Leider besitze ich kein anderes, auf dem Hugos Eltern abgebildet sind.
Sie staunen. Meine Tochter sieht ihrer frischgewonnenen Großmutter, die auf diesem Foto in etwa Regines Alter hat, wirklich zum Verwechseln ähnlich.
Da wird Hugo sentimental. »Mein Töchterchen«, sagt er und tätschelt Reginas Schulter, und sie putzt ständig mit zuckender Hand ihre Brille.
Felix gesteht, daß Susi auf ihn warte; deswegen wollte er mich fürsorglich ins Bett schicken.
»Geh nur«, sagt Regine, »aber mein Auto bleibt hier.«
Felix umarmt einen nach dem anderen und verkrümelt sich. Gleich wird er seiner Liebsten eine farbenfrohe Schilderung vom sittlichen Verfall seiner Familie geben.
Eigentlich würde ich das Album gern wegräumen, aber Hugo mag sein Hochzeitsbild nicht aus der Hand geben. »Warum bist du eigentlich nicht dabei, Charlotte?«
»Weil ich sterbenskrank war«, sage ich und reiße das Foto an mich.
Die schwangere Ida sieht zauberhaft aus, das muß man ihr lassen.
Nun blättert Regine im Album. »Schwer, leicht, schwer, leicht«, murmelt sie. Wir verstehen sie nicht. Sie erklärt uns, daß manche Familienmitglieder nach meinem korpulenten Vater, andere nach der feingliedrigen Mutter geraten sind.
Es kommt mir vor, als ob Regine grob vereinfachend ihre Fachkenntnisse demonstrieren will. Hugo zeigt sich beeindruckt, bei seiner dicken Heidemarie
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