Kalt ist der Abendhauch
rechter Unterschenkel mußte amputiert werden, monatelang lag er in einer Klinik. Veronika hatte ihrer kleinen Schwester (auf die sie ihr Leben lang eifersüchtig blieb) vorgeworfen, den schrecklichen Unfall verursacht zu haben. Regine behauptete wiederum, ihre Schwester Veronika habe ihr ein Zeichen gegeben, über die Straße zu laufen. Mit anderen Worten: Meine kleinen Töchter klagten sich gegenseitig an, während die wirklich Schlechte ihre Mutter war. Ich litt grenzenlos und begann, einen Teil meiner Schuldgefühle auf
Hugo zu übertragen. Ob er je verstanden hat, warum ich mich damals ohne Begründung zum zweiten Mal von ihm zurückzog und seine teilnahmsvollen Briefe nicht beantwortete?
Für mich, die ich eine Weile fast schwerelos gelebt und geliebt hatte, begann nun eine Zeit der Buße. Antons Einnahmen fehlten. Ich hatte Glück, daß ich Regine vormittags im Kindergarten unterbringen konnte. So war es mir möglich, stundenweise bei einem Zahnarzt zu arbeiten, der unsere Familie schon seit Jahren behandelte. Nachmittags besuchte ich mit allen Kindern den Kranken. Er machte weder mir noch ihnen jemals einen Vorwurf, sondern versank in eine schwere Depression, die ich als viel ernstere Anklage empfand. Es war fraglich, ob er je wieder als Masseur arbeiten konnte, er fühlte sich plötzlich nutzlos. Fast noch schlimmer waren die Phantomschmerzen, unter denen er zu leiden hatte. Anton wurde mit starken Schmerzmitteln behandelt, die seine trübe Verfassung eher noch verschlimmerten.
Als Alices Tochter getauft wurde, lehnte ich die Patenschaft ab, weil ich mich unwürdig fühlte. Dennoch nannte man das Kind »Constanze Franziska Charlotte«. Ich habe jahrelang befürchtet, mein Name könnte der Kleinen Unglück bringen.
Ich kann nicht schlafen, der morgige Tag liegt wie ein Berg vor mir. Was Hugo wohl damit meint, wenn er sagt, daß wir noch viel nachholen müssen. Ich muß ihn unbedingt fragen.
Meiner Ansicht nach bin vor allem ich an der Reihe, die Karten auf den Tisch zu legen. Regine und Felix sind völlig unvorbereitet auf die große Überraschung, die ihnen bevorsteht, Hugo ebenso. Gott gebe, daß ich die richtigen Worte finde!
Heidemarie hat sich auch nicht gemeldet, das bedeutet, daß sie womöglich operiert wurde und noch in Narkose liegt. Ohne Brust wird sie erwachen, und meine Aufgabe wird sein, diese tragische Nachricht ihrem Vater zu übermitteln.
Immer noch habe ich einige Essensreste vom Großeinkauf der Studenten übrig; werden vier Leute davon satt? Ein Stück Torte ist noch da, Mineralwasser und Likör, auch Pralinés gibt es noch und Käse. Keine perfekte Kombination. Vielleicht hätte ich mir im Hotel doch einen Doggie-Bag mit gekochter Zunge füllen sollen. Wie ich meine Regine kenne, wird sie einen leicht verbrannten, selbstgebackenen Apfelkuchen mitbringen. Habe ich noch ausreichend Kaffee im Haus?
So schwer es mir fällt, ich stehe noch einmal auf und schaue ins Küchenregal. Kaffee ist da, aber weder Milch noch Sahne. Also lösche ich das Licht nicht aus, sondern schreibe einen Einkaufszettel. Milch, Brot, Butter, Sekt, Leberwurst und natürlich Blumen nach meinem Geschmack, weiße Rosen vielleicht. Hugo hat mir keinen Strauß mitgebracht, da lobe ich mir doch die jungen Leute.
Sollen wir morgen alle vier auf den Waldfriedhof pilgern? Wäre das Familiengrab der passende Ort für die Demaskierung, oder ist es dort zu dramatisch? Ich beschließe, die Dinge einfach auf mich zukommen zu lassen. Und wenn alles überstanden ist, kann ich mich beruhigt zu den Vätern niederlegen.
Es ist ein Unterschied, ob man für vier Personen oder nur für sich selbst einkauft. Wie gerädert komme ich nach Hause, räume die Lebensmittel in den Kühlschrank, stelle die Blumen in die Vase und werfe mich in meinen grünen Ohrensessel. Es ist noch recht früh, Hugo wird vor zwölf das Hotel nicht verlassen. Soll er nur ausgiebig frühstücken, denn kochen will ich nicht mehr für andere, und dabei bleibt es.
Der Blumenstrauß ist wunderschön. Anton schenkte mir gelegentlich Rosen, die er wegen ihres Duftes liebte. Von Hugo dagegen bekam ich Bücher, die ich heute noch besitze. Aber gerade das Vergängliche macht eine Rose kostbar. Ich nehme eine einzelne Blüte heraus und halte sie mir unter die Nase. Der Geruch ist zart, so duftet wohl das Paradies. Eine schneeweiße Sorte habe ich nicht gefunden, doch die fahle Bastfarbe paßt zu meiner Stimmung. Die äußeren Blütenblätter drehen sich zu einer
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