Kalt ist der Abendhauch
zarten Spitze; die inneren wickeln sich immer dichter umeinander, bis sie in einem geheimnisvollen Zentrum enden, wo man eine Perle erahnen könnte.
Doch nun zum Ernst des Lebens: Baden und Haarewaschen. Hugo hat einen Hausschlüssel mitgenommen, also muß ich die Badezimmertür verriegeln, denn nichts wäre mir peinlicher, als wenn er versehentlich hereingetappt käme und die ehemals schöne Charlotte von einem nassen grauen Putzlappen nicht zu unterscheiden wäre. Wie lange kann ich noch ohne fremde Hilfe mit allen hygienischen Notwendigkeiten fertig werden? Alice, die acht Jahre jünger ist, muß bereits die Fußpflegerin aufsuchen. Ich kürze meine Nägel mühsam, aber allein. Es muß demütigend sein, wenn man sich waschen läßt; aber keiner kann
sich seine Gebrechen aussuchen. Ob Heidemarie ihren Papa baden muß? Obgleich meine Haare frisch geschnitten sind, wollen sie heute nicht sitzen. Soll ich meine guten alten »Wellenreiter« reinzwicken? Natürlich finde ich sie nicht. Es ist immer so: Wenn Besuch kommt, fühlt man sich älter denn je, und nichts will klappen.
Viel zu früh rückt er an, meine Haare sind noch naß, bleibt vor dem Picasso-Poster stehen. »Schönes Bild, ich habe es gestern schon bewundert! Vielleicht hatte ich deswegen diesen verrückten Traum...«
»Ich liebe die Akrobatenfamilie«, sage ich, »du hast mir dieses Plakat vor vielen Jahren geschickt. Hat dich Ida im Traum zum Affen oder zur Schnecke gemacht?«
Keins von beidem. Hugo hat charmanterweise von mir geträumt. »Wir beide lebten in Goethes Gartenhaus und besaßen zwei Affen, Männchen und Weibchen. Unsere Hausgenossen ähnelten Picassos Pavian, vielleicht waren es auch Schimpansen. Sie waren aufs artigste gekleidet: das Männchen in gelber Biedermeierhose und blauem Cutaway, sein Weibchen dagegen in weitem rotem Faltenrock und grünem Tirolerhütchen. Doch wie groß war unser Schrecken, als wir eines Morgens das Affenzimmer betraten und das bis dahin hochanständige Paar über Nacht zwölf Kinder bekommen hatte. Die jungen Anthropoiden waren naturgemäß unbekleidet und von überschwenglichem Bewegungsdrang erfüllt. Du kannst dir das Klettern, Toben und Kreischen gar nicht vorstellen, Charlotte...«
War das ein angenehmer Traum?
»Fast«, sagt Hugo, »denn du hast mich getröstet. Der frechste Affe hatte meine Buddenbrooks-Ausgabe von 1907 zerkaut! Ich habe im Traum geweint, da hast du mich liebevoll in den Arm genommen, und es war alles, alles gut.«
Ein typischer Hugo-Traum mit dem schönen Schluß aus Eichendorffs Taugenichts; bloß weiß man nie genau, ob er es nicht just erfunden hat. Trotzdem bin ich amüsiert. Hugo breitet die Arme aus, und ich flüchte mich hinein. Es ist wunderbar, aber die Arbeit wartet nicht.
»Später, Hugo«, sage ich und mache mich frei, dabei bin ich mir nicht sicher, ob ich wirklich eine Fortsetzung wünsche, »ich muß den Tisch decken.«
Hugo hat schon wieder ganz vergessen, daß ich Besuch erwarte. »Meine Tochter und mein Enkel«, sage ich.
Hugo summt: »Veronika, der Lenz ist da!«
Nein, Veronika kommt nicht extra aus Amerika, es ist Regine.
»Sososo!« Ich sehe ihm an, daß er grübelt. »Mir ist entfallen, ob sie einen Mann hat und ob ich seinen Namen wissen muß...«
»Er heißt Ernst Elias, aber den Namen brauchst du dir nicht mehr zu merken, Regine ist seit langem geschieden. Übrigens nannte man ihn das Ofenrohr.«
Hugo lacht, die alte Darmstädter Sitte, allen Leuten einen Spitznamen zu verpassen, hat ihm immer gefallen. »Bekommt sie wenigstens Geld vom Ofenrohr?«
»Sie nicht, aber ihr Sohn. Regine ist berufstätig und verdient genug.«
Da ruft Heidemarie an, um mir die Hiobsbotschaft mitzuteilen. Ihren Vater möchte sie nicht sprechen, ich soll ihm behutsam von der überstandenen Operation berichten. Hugo sagt sofort: »Krebs?« Als ich nicke und Pillen austeile, versinkt er in mißmutiges Schweigen.
Ich kann ihn begreifen: Der Gedanke, daß eines der eigenen Kinder vor ihnen sterben könnte, ist für alle Eltern unerträglich.
Plötzlich steht Felix, der einen Hausschlüssel hat, mitten im Zimmer. Regine latscht in Gesundheitssandalen mit einem zu flach geratenen Käsekuchen hinterdrein. Hugo schnellt in zackiger Steifheit hoch, er ist noch von der alten Schule.
»Guten Tag, Onkel Hugo«, brüllt Regine. Sie hat beruflich oft mit Behinderten zu tun und behandelt zuweilen den Rest der Menschheit ebenso.
»Darf ich dich mit deinem Vater bekannt machen?«
Weitere Kostenlose Bücher