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Kalt ist der Abendhauch

Kalt ist der Abendhauch

Titel: Kalt ist der Abendhauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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zum Massengrab von 12000 Darmstädter Bürgern, die bei der Zerstörung der Stadt am 11. September 1944 umkamen. Auf den Gedächtnistafeln sind ihre Namen in alphabetischer Reihe verzeichnet. Es sind viele dabei, die wir gut kannten.
    »Nun aber zu Ida«, sagt Hugo. Meine Schwester liegt nicht bei meinen, sondern bei seinen Eltern, wo man auch ihm ein schattiges Plätzchen freihält. »Hier ruht in Frieden unsere gute unvergeßliche Elise«, liest Regine auf der Steinplatte ihrer neuen Großmutter. Hugo hat eine weiße Rose mitgebracht, die er auf Idas Grabstein bettet.
    Unser Familiengrab ist schöner als seines. Vier korintische Säulen stützen ein bemoostes Dach, dessen Sims mit einem Mäanderfries geschmückt ist. Rechts und links halten Engel eine Rosengirlande, die in der Mitte zu einem Kranz geschlungen ist. Buchen und Kiefern werfen Eckern und Zapfen auf den Waldboden, der im übrigen nur von einigen Töpfen Fleißiger Lieschen gestört wird. Hier liegen meine Großeltern, Eltern, meine Geschwister Fanni und Albert.
    »Oh, lieb, solang du lieben kannst!
    Oh, lieb, solang du lieben magst!
    Die Stunde kommt, die Stunde kommt,
    Wo du an Gräbern stehst und klagst.«
    liest meine Schwiegertochter mit leicht mokanter Stimme vor. Ich nehme an, daß ihre Vorfahren ein noch viel feineres Ruhebett besitzen. Dabei ist unser Familienspruch gar nicht so übel.
    Regine und Ulrich nehmen häufig die Gelegenheit wahr, sich außer Hörweite zu begeben. Sie reden über mich und Hugo, das liegt auf der Hand. Dann schließen sie wieder auf, Regine nimmt ihren Pa beiseite, Ulrich tritt mit mir zu einem langweilig polierten Marmorblock aus den sechziger Jahren. Er vertieft sich aber nicht in die Grabinschrift; seine Wißbegierde gilt einer grünen Plakette, die auf dem schiefen Klotz klebt: »Unfallgefährdet! Grabstein sofort befestigen lassen! Die Friedhofsverwaltung.« Als würde uns das Monstrum gleich auf die Füße poltern, zieht er mich erschreckt ein Stückchen weiter. »Wie lange muß Heidemarie noch im Krankenhaus bleiben? Und was wird aus Onkel Hugo, wenn sie vorerst selbst pflegebedürftig ist? Man sollte mit ihrem Arzt Kontakt aufnehmen, nicht wahr...« Heidemarie hat mir die Telefonnummer der Klinik gegeben, aber wo habe ich sie hingelegt? Wahrscheinlich in die rechte Schublade des Küchenbüffets.
    Susi will wissen, wer Fanni war.
    »Die Großtante von Felix«, sagt Regine, »meine Schwester«, sage ich, »eine fromme Frau«, sagt Hugo grinsend. Im Gegensatz zu vielen wichtigeren Dingen hat er nicht vergessen, daß auch Fanni kurzfristig in ihn verschossen war. Aber anders als ich hat sich meine Schwester keinem Mann, sondern der Religion hingegeben.
    »Woran ist sie gestorben?« fragt Felix.
    An Unterleibskrebs, Fanni gehörte zu den vielen tragischen Frauengestalten, die aus falscher Scham zu spät zum Arzt gegangen sind.
    »Also stammt der Krebs aus eurer Familie«, stellt Hugo anklagend fest, denn Regine hat wohl gerade mit ihm, genau wie Ulrich mit mir, über Heidemaries Krankheit gesprochen.
    Ich ärgere mich plötzlich über die ganze Mischpoke und will nach Hause, doch mein Wunsch bleibt vorerst unerheblich, denn Hugo wird es schwindlig, und er sinkt auf eine Grabplatte. Zur allgemeinen Verwunderung zieht Regine ein Blutdruckmeßgerät aus ihrer sackartigen Handtasche. »Woher hast du denn so was?« fragt Felix verblüfft.
    »So was hat man eben«, antwortet sie, wickelt die Gummimanschette um Hugos Oberarm und pumpt auf. Das Ergebnis ist besorgniserregend. Ulrich und Felix stützen meinen alten Hugo und führen ihn zu einer schattigen Bank, denn Regine zischt: »Raus aus der Sonne!«
    Mir tut die Rast auch ganz gut.
    Regine ist in ihrem Element. Sie traktiert ihren Vater mit Kreislauftropfen und aufmunternden Worten. Hugo geht es bereits nach fünf Minuten besser; schlau, wie er ist, weiß er die Gunst der Stunde zu nutzen. »Ich will nicht mehr ins Hotel...«, seufzt er, als wäre das Hotelbett schuld.
    »Du kommst zu mir«, sagt Regine beglückt, »das wäre ja noch schöner!«
    »Ich möchte zu Charlotte«, sagt Hugo, und ich sehe in seinen Augen ein listiges Funkeln, das mich rührt.
    Ohne zu fragen, ob mir diese Lösung recht ist, verspricht ihm Regine alles, was er will.
    Evelyn möchte am Eingang fragen gehen, ob wir ausnahmsweise mit dem Wagen bis zu Hugos Bank vorfahren dürfen. Hugo will auf keinen Fall Aufsehen erregen und versichert, es bis zum Auto zu schaffen. Regine und Felix halten ihn

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