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Kalt ist der Abendhauch

Kalt ist der Abendhauch

Titel: Kalt ist der Abendhauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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reagiert er aber empfindlich.
    »Hast du Heidemarie schon gesagt, daß ich eine zweite Tochter habe?« fragt Hugo jetzt ängstlich. »Sie hing sehr an Ida. Vielleicht ist jetzt nicht der richtige Moment...«
    Ich beruhige ihn; es ist klar, daß sie vorläufig geschont werden muß.
    Aber nun fängt Regine an: »Weiß Ulrich Bescheid?«
    Nein, hier und heute war mein Coming-out. Regines Augen glitzern; ich ahne, daß sie uns ebenfalls bald verlassen wird. Lange Telefongespräche mit ihrem Bruder in Heidelberg und Veronika in Los Angeles stehen an, dabei wäre es mir lieber, ich dürfte auch meine anderen Kinder selbst informieren.
    Regine erkennt, daß mir alles zuviel wird.
    »Ich fahre Onkel Hugo - beziehungsweise Vater - ins Hotel, esse mit ihm eine Kleinigkeit und komme morgen wieder. Gott sei Dank ist heute erst Samstag.«
    Endlich habe ich alles abgeräumt und gespült, liege im Bett und bemerke in der wunderbaren Stille der Nacht, daß mein Herz holpert und poltert wie nie zuvor. In dieser späten Stunde wird auch Hugo schlaflos im Hotelzimmer liegen, Regine wie eine Verrückte telefonieren, Felix die Sache etwas gelassener hinnehmen. Ob nun ein gewisser Onkel Anton oder der neue Onkel Hugo sein Großvater ist, wird ihm keine Neurosen zufügen. Fraglos hat ihm die Scheidung seiner Eltern mehr geschadet.
    Alle meine Kinder haben Anton mit »Onkel« angeredet, auch Regine, die ihn für ihren leiblichen Vater hielt. Ich denke an die schwere Zeit zurück, als Anton aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Anton hatte stets im Stehen massiert, was ihm infolge der Beinprothese nicht mehr gelang. Im Sitzen fand er keine Kraft zum wirksamen Kneten und Klopfen. Nur noch wenige treue Patienten, die sich mit laschem Streichen und Reiben zufriedengaben, besuchten seine Praxis. Ich mußte weiterhin Geld verdienen.
    Als Regine acht war, starb Anton an einer Lungenentzündung. Sein Tod traf sie tief; sie begann unter ständig wiederkehrenden
    Bagatellerkrankungen zu leiden und kam in der Schule nicht mehr mit. Bereits damals wäre es meine Pflicht gewesen, dieses labile Kind mit seinem wirklichen Vater zusammenzubringen, aber hätte sich Hugo das überhaupt gefallen lassen? Und wie sehr hätte ich meine kranke Schwester Ida verletzt, der ohnedies kein leichtes Schicksal beschieden war.
    Am meisten ärgert mich die eigene Redseligkeit. Ich hätte Regine auf keinen Fall verraten sollen, daß ich mit Hugo auch nach ihrer Zeugung eine Liebesbeziehung unterhielt. Wenn ich sie im Glauben gelassen hätte, daß ich ihrem geliebten Onkel Anton treu war, hätte sie sich niemals so aufgeregt. Warum war ich derartig unbesonnen?
    »Es ist ohnehin alles nicht mehr zu ändern«, sagt Hulda, »schlaf lieber ein bißchen. Morgen ist auch noch ein Tag.«
    Sie hat recht, aber trotzdem verfolgen mich meine Kinder immer wieder bis in den Schlaf, und sei es nur wegen der Schuldgefühle, mit denen sich wohl jede Mutter herumschlagen muß. Hätte eine andere alles besser gemacht? Veronika verließ viel zu früh das Elternhaus, Ulrich war ein altkluger Einzelgänger, Regine ein Seelchen, sie hätten einen guten Vater gebraucht.

Erst gegen fünf Uhr bin ich eingeschlafen, jetzt ist es bereits zehn, das Telefon hat mich geweckt. Dem alten Herrn gehe es nicht besonders, sagt eine besorgte Stimme, er lasse ausrichten, er bleibe noch eine Weile im Hotel. Das Frühstück habe man ihm selbstverständlich wie bisher aufs Zimmer gebracht. Ich solle mich aber nicht aufregen.
    Der nächste Anrufer ist Ulrich. Lange habe ich nichts von meinem Sohn gehört. »Wir kommen nachher vorbei.«
    Also noch mehr Leute. Wer ist wir?
    »Nur Evelyn und ich, Friedrich und Cora sind außer Landes; die Jugend ist flügge geworden, nicht wahr.«
    Mein Sohn und meine Schwiegertochter wohnen zwar nicht allzu weit von mir, aber sie sind stets bis über beide Ohren beschäftigt. Regine muß ihnen ordentlich eingeheizt haben. »Ulrich«, sage ich zaghaft, »sicher hat dich deine aufgelöste Schwester gestern in Unruhe versetzt. Ihr braucht nicht extra herzukommen, ich habe bisher noch immer alles allein geschafft.«
    Er läßt sich gar nicht auf Diskussionen ein. »Wir bringen einen Chianti classico mit«, sagt er, »ciao, a presto!«
    Ich weiß, daß er nichts von meiner Vorliebe für Dessertweine hält.
    Als erste kommt Regine; man sieht ihr an, daß sie nicht gut geschlafen hat. Mißbilligend besieht sie sich Hugos Pillen. »Seine Hypertonie muß regelmäßig behandelt werden«, sagt

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