Kalt ist der Abendhauch
sie, »anscheinend hat er die Tabletten weder gestern abend noch heute morgen eingenommen.«
Mea maxima culpa, aber wer konnte bei aller Aufregung an solche Banalitäten denken? Obwohl ich aufgeräumt habe, beginnt Regine, noch besser aufzuräumen; ob sie ihrer Schwester Heidemarie nacheifern und mich unter Kuratel stellen will?
»Wie war das Essen im Hotel?« frage ich, um mich an den gestrigen Abend heranzutasten.
»Das Essen war unwichtig«, sagt Regine anklagend, »aber ich frage mich immer wieder, warum du mir meinen bezaubernden Erzeuger so lange vorenthalten hast.«
Dacht' ich mir's doch, jetzt ist er der Wunderbare, und ich bin abgeschrieben. Ich reagiere empfindlich und versuche mühsam, meine damalige Situation zu erklären.
Wir beschimpfen und umarmen uns, weinen, brechen in gereiztes Lachen aus. Lange kann man das nicht aushalten.
Am Telefon ist Veronika: »Hello, Mommy!« Meine anderen Kinder sagen seit dreißig Jahren »Mutter« zu mir. Ein Satellitenecho macht es unmöglich, verständlich miteinander zu sprechen. Mein Glück, denn ich mag nicht mehr. Als mein Schwiegersohn »Hi, Lotti!« schreit, hänge ich auf.
»Soll ich Pa abholen?« fragt Regine. Von >Onkel Hugo< zu >Pa<, das ging ja schnell! Soll sie nur losfahren. Heimlich hoffe ich, daß Hugo noch im Bett liegt und sie nicht allzu bald zurückkommen. Nach einer solchen Nacht tut es gut, sich noch ein wenig auf dem Kanapee auszustrecken.
Ewig und drei Tage habe ich die arme Heidemarie mit Häme überschüttet, ich schäme mich ein bißchen. Erstens hatte sie mit ihrer Vorsorge durchaus recht, denn Hugo denkt gar nicht daran, unaufgefordert seine Pillen zu schlucken. Und außerdem muß sie am Ende vor mir sterben.
Auf der Suche nach Postkarten finde ich eine mit dem Hochzeitsturm. Heidemarie wurde schließlich in Darmstadt geboren und ist hier aufgewachsen, sie wird sich über etwas Heimatliches freuen. Wie fünf Finger einer Hand weisen die Zinnen des Ziegelturms nach oben und werden Heidemarie diskret an das Himmelreich gemahnen. Wenn Hugo, Regine und Ulrich hier sind, werden wir gemeinsame Grüße nach München senden.
Ulrich und Evelyn, Hugo und Regine, schließlich auch Felix und Susi, stehen in meiner winzigen Diele herum und beraten, was man unternehmen soll. »Friedhof«, fordert Hugo.
Wir fahren in zwei Wagen. Den ersten steuert Regine, neben ihr sitzt Ulrich; im Fond fläzen sich Hugo und ich wie zwei Kinder. Ohne die geringste Verantwortung zu übernehmen, werden wir durch die Gegend geschaukelt. Hugo genießt es und faßt sogar im Überschwang nach meiner Hand. Seine Finger sind an den Mittelgelenken knotig und steif, ich weiß, daß sich meine eigenen ähnlich anfühlen.
Ulrichs Wagen wird von Felix gefahren, neben ihm sitzt Evelyn, hinten Susi. Die Neugierde stand ihr im Gesicht geschrieben, als sie Hugo begrüßte.
Vor dem Waldfriedhof gibt es ausreichend Parkplätze, die Saison für gießende Gärtner hat bis jetzt nicht begonnen. Susi war noch nie hier. Als Studentin der Architektur imponiert ihr der grandiose Zugang; wir schreiten über eine großräumige Fläche zum Hauptportal, das von Säulen getragen und von zwei Kuppeltürmen mit runden Fenstern - Ochsenaugen, wie sie fachmännisch sagt - flankiert wird. Ulrich belehrt die junge Dame: »Stadtbaurat August Buxbaum hat diese Begräbnisstätte geplant, 1914 wurden die ersten Gräber angelegt. Zuerst entstand das Krematorium, ein paar Jahre darauf wurden Aussegnungs- und Leichenhalle fertig.«
Hugo strebt zu seinem Familiengrab, ich zu meinem, aber unsere Studenten siegen. Es sind die Kriegsgräber aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, für die sie sich interessieren. »Nun sieh doch mal«, sagt Felix, »die toten Soldaten kamen nie
ohne Dienstgrad unter die Erde. Ordnung ist also nicht bloß das halbe Leben!« Und er liest vor: »Pionier, Kanonier, Gefreiter, Telephonist, Luftschiffer, Krankenträger, Landwehrmann, Reservist, Schütze, Grenadier, Gardist und so weiter...«
Zu den deutschen kommen ein paar hundert französische und russische Soldaten, die zwischen 1914 und 1918 fielen. Unser pazifistisches Pärchen ist entsetzt und beginnt mit Eifer, auch die Inschriften für gefallene Söhne auf den Familiengräbern zu studieren. Sie ruhen »fern ihrer Lieben, doch unvergessen, bei Tobruk in Nordafrika«, aber »die Liebe höret nimmer auf«, sie starben den »Heldentod fürs Vaterland« oder sind »beim Einfliegen tödlich abgestürzt«. Schließlich kommen wir
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