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Kalt ist der Abendhauch

Kalt ist der Abendhauch

Titel: Kalt ist der Abendhauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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unter den Armen, und mit langsamen kleinen Schritten nähern wir uns dem Parkplatz.
    Susi plaudert mit Ulrich, meine Schwiegertochter mit mir. Obgleich sie heute bestimmt nicht ihre besten Sachen trägt, stellt sie doch alle in den Schatten. Ihr rosa Kostüm - persischrosa, wie sie betont - könnte sich auf jedem Diplomatenempfang sehen lassen. Nun, sie wußte ja nicht, daß wir ausgerechnet auf den Friedhof wollten. »Du hast die falschen Schuhe an«, sagt sie liebenswürdig.
    Evelyn hat mich durchschaut. Sie kennt meine Vorliebe für Turnschuhe und weiß, für wen ich die eleganten Riemchensandalen trage, die sie mir einst in Florenz gekauft hat. Ich schäme mich ein bißchen, daß mir Hugo wichtiger ist als die eigene Trittfestigkeit.
    Früher haben böse Zungen behauptet, Ulrich leide unter einem Ödipuskomplex: Mit der rothaarigen Evelyn habe er seine Mutter geheiratet. Alles Unsinn. Anfangs hatte ich Bedenken, ob diese mondäne Frau meinem weltabgewandten Ulrich treu bleibe, doch seit er die Fünfzig überschritten hat, klagt sie immer wieder, daß er seinen Studentinnen schöne Augen mache.
    Als wir endlich zu Hause sind, wird Hugo aufs Sofa gepackt. Ulrich geht mit dem Telefon und mir in die Küche. Natürlich kann er den Chefarzt in München nicht erreichen, heute ist Sonntag. Ich rufe meine Schwester Alice an, die schließlich Ärztin war. Sogleich erklärt sie sich bereit, ab morgen früh Jagd auf Heidemaries Ärzte zu machen und uns umgehend zu informieren. Im übrigen beruhigt sie mich; sie kenne mehrere Frauen, denen es nach einer Brustoperation seit vielen Jahren ausgezeichnet gehe. Aber es könne natürlich zu Lymphstauungen im Arm kommen... »Wenn in den ersten drei Jahren nach Entdeckung eines Mammakarzinoms keine Metastasen oder Lokalrezidive auftreten, ist man im allgemeinen über den Berg.«
    Ob Hugo und ich das noch erleben werden?
    Inzwischen haben Regine, Felix und Susi die Mansarde besichtigt und auf ihre Verwertbarkeit als Gästezimmer untersucht. Unmöglich, vor allem wegen der steilen Treppe, sagt Regine. Aber man könne eines der Betten hinuntertragen. Felix sagt taktlos: »Obgleich die Matratzen ziemlich das Letzte sind.«
    Und wohin mit dem Bett? Sie werden es doch nicht - mir nichts, dir nichts - neben meinem Lager aufschlagen. »Ich kann ohne weiteres auf dem Sofa schlafen«, behauptet Hugo.
    Ich protestiere, auf längere Sicht möchte ich mein SiestaPlätzchen nicht missen. Die tatkräftigen Kinder wandern suchend durch Küche, Wohn- und Schlafzimmer. Nun leistet das Kabäuschen doch noch nützliche Dienste, wenn man es leer räumt, passen Bett und Nachttisch hinein. Hugo ist es zufrieden.
    Ich höre, wie Ulrich seine Schwester fragt, ob sie nicht besser auch bei mir übernachtet, falls Hugo wieder kollabiert. »Ich bitte dich, ich muß morgen früh um acht auf der Matte stehen«, sagt Regine, »ich nehme an, daß du erst sehr viel später...«
    Um neun ist meine besorgte Familie endlich verschwunden, Hugo und ich sind allein. Ein von Susi frisch bezogenes Bett erwartet ihn, Regine hat seinen Koffer aus dem Hotel geholt. Wir zwei Alten sind erschöpft, aber wir denken beide rechtzeitig an die Tabletten.
    »Warum hat sich Regine von ihrem Mann getrennt?« will Hugo wissen. »Er ist doch immerhin der Vater von Felix?« Er hält nicht viel von Scheidung, das weiß ich seit bald fünfzig Jahren.
    Ich erzähle also, wie Regine einen wesentlich älteren Mann, das sogenannte Ofenrohr, ziemlich überstürzt heiratete, obgleich ich, Ulrich, Alice und ihre besten Freundinnen sie warnten. Ernst Elias ist ein etwas verrückter Künstler, Spezialist für biblische Themen. Regine hatte damals eine lang wallende Mähne und stand ihm für die büßende Maria Magdalena Modell, wusch und salbte dem Herrn die Füße und setzte anschließend ihre Haare als Handtuch ein. Um ein männliches Modell zu sparen, pflegte das Ofenrohr den eigenen Fuß aus manieristischer Perspektive abzumalen. Regines Schwangerschaft war der Anlaß, daß sich Ernst Elias den Madonnen zuwandte; etwas mißmutig mußte sie für eine Marienserie stillhalten, obwohl sich die gemalte Jungfrau stets auf der Flucht befand.
    Der Maler gab viel Geld für weiße Lilien, geliehene Esel und blaue Umhänge aus. Als Felix zur Welt kam, wurde auch er Opfer der väterlichen Leidenschaft, in grobes Leinen gewickelt gesellte man ihn schon mit wenigen Monaten stundenlang einem Lämmlein bei. Um sich zu entlasten, plädierte Regine für die

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