Kalt ist der Abendhauch
Backfisch über den Liliputaner kichern, der bestimmt Hugos Erfindung ist. Über die real existierende Rotraud muß ich allerdings weinen, und mein Herz schweigt lange nicht stille.
Beim Frühstück fragt Hugo nach seinem Enkel: »Und wie steht der Junge zu seinem Vater?« Felix und Ernst Elias sehen sich selten und mögen sich nicht, aber die Zahlungen erfolgen pünktlich und großzügig. Der Maler kam nämlich im Alter zu Geld und Ehren, als er sich von den Tafelbildern ab- und der Wandmalerei zuwandte. Nachdem er für einen bayerischen Konzern die sieben Todsünden gemalt hatte, wurde es in der Großindustrie Mode, Konferenzsäle mit ebenso gigantischen wie moralisierenden Fresken auszuschmücken.
Noch eines will Hugo wissen: Wieso der Name »Ofenrohr«? Der Vater von Felix war einst ein »schmales Handtuch«, wie Anton sich ausgedrückt hätte, ein langer dünner Mann. Unser Enkel sieht ihm etwas ähnlich. Aber nach seinen großen Erfolgen hätte man den Spitznamen des Malers in »Kanonenofen« abändern müssen, denn die Gestalt wandelte sich drastisch, er wurde vierschrötig und bullig, wie auch die Gesichtsfarbe von teigig-bleich ins Violette mutierte.
Meine Gegenfrage an Hugo lautet: »Warum hat dich Heidemarie nicht bei Rotraud abgegeben?«
Ich hätte es mir denken können, die Buchhändlerin hat sich einen Jüngeren besorgt, und zwar schon vor geraumer Zeit. Sie wollte aber ihrem alten Freund nicht weh tun und lud ihn noch jahrelang weiterhin zum Tee ein.
»Charlotte, ich war ein Esel.« Das stimmt allerdings. Wir schlürfen unseren Kaffee und hängen trüben Gedanken nach.
Und was sollen wir nun mit Bernhard machen? Kein Problem, meint Hugo gelassen, ich könne eine Erklärung bei einem Notar hinterlegen, die erst nach meinem Tod der Erbin ausgehändigt werde. Dann sei Regine in der Lage nachzuweisen, daß sie nichts mit dem Toten zu tun habe. Jedes beliebige Bestattungsunternehmen könne dann die Leiche beseitigen.
»Nein«, sage ich, »das geht nicht. Du kennst Ulrich und Veronika nicht! So was von moralisch! Wenn die erfahren, daß es ihr gefallener Vater ist...«
»Brauchen sie doch gar nicht. Du schreibst einfach, daß du einen unbekannten Soldaten, der dich vergewaltigen wollte, in Notwehr erschlagen hast!«
Veto. Einen Unbekannten wird man auf jeden Fall untersuchen und anhand seiner Zähne die Identität herausfinden.
»Dann müssen wir ihn eben wieder auspacken«, sagt Hugo trocken.
»Mach keine schlechten Scherze.«
Hugo lächelt mich an. Themawechsel, ich kenne ihn doch. »Charlotte, ich habe noch nie im Leben einen Heiratsantrag gemacht. Damals, als Ida schwanger war, hat man mich von allen Seiten eingeschüchtert: Du mußt sie jetzt sofort heiraten! Vielleicht hätte ich es auch sowieso getan, aber sicher nicht mit einundzwanzig.«
Ich sehe ihn erwartungsvoll an. Ohne zu erröten, fragt er: »Charlotte, möchtest du meine Frau werden?«
Nun muß ich schlucken. Hugo ist immer für Überraschungen gut. »Möchtest du mir noch ein Kind machen?« frage ich, schließlich war die biblische Sara älter als ich. Hugo hätte lieber eine andere Antwort vernommen, er schaut etwas pikiert zum Fenster hinaus. Ich bin in Geberlaune, vielleicht sollte ich ihm die Onkelehe anbieten.
Hugo und ich plaudern genußvoll über exklusive Details aus unseren verflossenen Eheleben, wobei wir die Regel, über Tote nur Gutes zu sagen, geflissentlich mißachten. Wenn ich ihn in früheren Zeiten nach Ida befragte, gab Hugo höchstens einsilbige Auskunft über ihren Gesundheitszustand. Nun erfahre ich, daß meine Schwester in ihren letzten Jahren ein Faible für Pfefferminzschokolade entwickelte, wodurch sie ihre berühmte zierliche Figur verlor. Tagsüber wurde Ida im Rollstuhl vor den großen Eßzimmertisch gefahren, wo sie Puzzleteile zu einem Bild zusammenfügte und sich hauchdünne süße Plättchen in den Mund schob. Sie hatte das Tadsch Mahal, den Herbst in Kanadas Wäldern, mittelalterliche Giebelhäuser in Lüneburg, das Washingtoner Capitol sowie Rembrandts Nachtwache so oft bewältigt, daß sie alle Puzzlestückchen auf die einfarbige Rückseite drehen und nur nach der Form wieder zusammensetzen konnte. Zeit zum Lesen hätte sie gehabt, Bücher in Hülle und Fülle, aber nein, Heidemarie mußte ihr ständig Klatschmagazine und Modeillustrierte besorgen. Etwas maliziös frage ich nach Heidemaries eigener Lektüre; für Hugos Begriffe eine mittlere Katastrophe: Seine Tochter liest alles über
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