Kalt ist der Abendhauch
heiß wurde, trat ich dem jüngeren Bruder großmütig meine gefütterte Jacke ab. Er wollte auch die Kapuze dazu. Als er schließlich das taillierte königsblaue Jackett und die pelzverbrämte Kapuze mit dem Bommel an der Spitze trug, wurde er zusehends munterer. Sicher eingehakt wiegte er sich zwischen Fanni und mir strahlend vor Glück zu Flotows Martha, Martha, du entschwandest. Ein Kunde unseres Schuhladens meinte lächelnd: »Sieh da, das Dreimädelhaus!«
Am nächsten Nachmittag fragte ich Albert, ob er wieder mitkommen wolle. Er hatte durchaus Lust, allerdings nur bei einem erneuten Kleidertausch. Ich zeigte damals kein
Verständnis, und deshalb blieb es für Albert bei einem einzigen Besuch auf der Schlittschuhbahn.
Eigentlich habe ich erwartet, daß meine Erzählung Hugo und Felix rührt und ein bißchen traurig stimmt. Aber Hugo sagt einzig und allein: »Das wissen wir im Prinzip ja schon«, und wirft einen Sektkorken aus Plastik ins Wasser; und Felix fragt: »Hatte man damals schon Lautsprecher?«
»Nein, mitten auf dem Eis stand ein kleines Podest, wo ein Trio bei einem wärmenden Feuerchen musizierte. Manche Paare tanzten, während wir Kinder häufig einem Geschwindigkeitsrausch verfielen.«
Felix und Hugo kommen miteinander ins Gespräch, mich lassen sie links liegen. Ich höre, wie mein Enkel seinen Opa mit »werter Herr Großvater« anredet, während Hugo den Namen Felix nicht auf Anhieb artikulieren kann. Er pflegt sich mit »Bub« oder »Junge« aus der Affäre zu ziehen. Da ich genau weiß, daß Felix eher motzig reagiert, wenn man sein Wissen abfragt, speziell das bibliophile, halte ich es für falsch, daß Hugo sofort wieder auf sein Steckenpferd zu sprechen kommt.
»Ich bin froh, wieder in Darmstadt zu weilen«, sagt der Alte feierlich, »hier befindet sich die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, hier sind meine literarischen Wurzeln.«
Felix geht auf ihn ein. »In der Schule hatten wir einen Deutschlehrer, der war totaler Büchner-Freak. Wir haben den Woyzeck durchgekaut bis zum Gehtnichtmehr...«
»Es sind kritische Geister«, sagt Hugo, »für die unsere Residenzstadt bekannt ist: Johann Heinrich Merck, Büchner, Niebergall, zu meiner Zeit dann Kasimir Edschmid, Friedrich Gundolf und vor allem Georg Hensel, um nur einige zu nennen.«
»Kenn' ich weniger«, sagt Felix, der angehende Maschinenbauer, »aber ich glaube fast, du hast die Wohmann vergessen; was liest du denn im Augenblick?«
Hugo gibt zu, daß ihm das Lesen seit zehn Jahren zu anstrengend ist, er kann sich nicht mehr konzentrieren. »Eigentlich wollte ich mir alle Lieblingsbücher noch einmal vornehmen und dann abtreten. Aber ich bin zu müde. Und kaum stellt man die Tagesschau an oder schlägt die Zeitung auf«, sagt er anklagend, »hört man von nichts als Mord, Korruption und Blutschande! Also verlasse ich mich auf meine Tochter; wenn diese wahnsinnige Welt untergeht, wird sie es mir schon sagen.«
Als wir wieder allein und zu Hause sind, legt sich Hugo erneut aufs Sofa, ich nehme mir die Zeitung vor.
Ehemann abgefackelt! Was man für Sachen liest. Im Grunde habe ich das Projekt Bernhard zu den Akten gelegt, wenn ich auch in den letzten Tagen häufig davon träume.
Wieder einmal kann ich lange nicht einschlafen, und wie vorauszusehen war, quälen mich schließlich Alpträume: Vater erschießt Albert, Fanni schlägt mit dem Kruzifix auf mich ein, Bernhards Geist gibt Klopfzeichen. Eine eiskalte Hand greift nach mir.
Es dauert eine Weile, bis ich aufhöre zu schreien und wach werde. Neben mir liegt Hugo. »Mir geht's nicht gut«, sagt er wehleidig, »laß mich ein bißchen bei dir bleiben, manchmal habe ich so etwas wie Todesangst.«
»In unserem Jahrgang ist das normal«, sage ich frostig. Fast hätte ich gerade vor Schreck über seine eisigen Finger meinen Geist aufgegeben.
Dann sage ich kein Wort mehr und überlege, wie ich es finden soll, in meinem biblischen Alter mit einem Methusalem das Bett zu teilen. Was führt er im Schilde?
Anscheinend will Hugo in erster Linie aufgewärmt werden, er kuschelt sich eng an mich. Dabei achten wir beide peinlich genau darauf, uns nicht versehentlich unsittlich zu berühren. Aber bevor ich überhaupt mit mir selbst einig bin, ob mir so viel Nähe recht ist, erwärmt sich der Eisheilige und schläft fest ein. Immer schwerer wird sein Arm, drückender sein knochiger Schädel, immer lauter werden die rasselnden Atemgeräusche, raumfordernder seine dürren Beine, immer
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