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Kalt ist der Abendhauch

Kalt ist der Abendhauch

Titel: Kalt ist der Abendhauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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Tod zum zweiten Mal einen witwenartigen Status erreichte. Anfangs trauerte ich aufrichtig und hatte gar nicht das Bedürfnis, intensiveren Kontakt mit Hugo aufzunehmen. Miele wiederum wurde über den Verlust ihres Spirwes durch einen jungen Mann hinweggetröstet. Sie, die bisher treue Ehefrau, gab sich keine drei Monate nach der Beerdigung einem bildhübschen Zeitungsausträger hin. Von da an riß die Kette ihrer Liebhaber nicht ab.
    Hugo hatte vorsichtig, aber erfolglos, seine Fühler nach mir ausgestreckt, als er zufällig mitten auf dem Eisernen Steg gegen Miele rempelte. Sie fiel ihm um den Hals, wußte auch, daß zwischen mir und Hugo kein Liebesverhältnis mehr bestand, und lockte ihn auf der Stelle in ihr Haus. Als ich davon erfuhr, weil sie es mir arglos erzählte, war ich derartig verletzt, daß ich es ihm bis heute nachtrage. Hugos Techtelmechtel währte etwa zwei Jahre, weil Mielchen letzten Endes jüngere Männer bevorzugte. Später habe ich mich mit ihr ausgesöhnt und wieder neu angefreundet, wobei wir mit behutsamer List Erfahrungen über Hugo austauschten. Es war mir eine Beruhigung, daß es sich nur um eine oberflächliche Affäre gehandelt hatte. Außerdem stellte ich mir gern vor, daß Hugo jedesmal, wenn er in Mieles Ehebett lag, an mich erinnert wurde; wie aufregend war es gewesen, als wir in flagranti von Spirwes entdeckt wurden.
    Es gibt mir einen Stich, daß Hugo die Vase sofort wiedererkannt hat. Ich würdige ihn keines Blickes mehr und schalte den
    Fernseher ein. Ich möchte eine Weile gar nichts reden, es ist so anstrengend, ständig mit einem anderen Menschen zusammenzusein. Warum habe ich nur ein Leben lang menschliche Gesellschaft gesucht? Warum mußte ich unbedingt heiraten, drei Kinder bekommen und mich darüber hinaus immer wieder mit Familienmitgliedern, Männern und Freundinnen herumärgern? Wie viel angenehmer war es, als mir nur Hulda Gesellschaft leistete. Sicher freue ich mich, wenn meine Kinder oder Enkel zu Besuch kommen, aber mehr noch, wenn sie wieder abziehen. Wieso heißt es ständig, ein einsamer Lebensabend sei etwas Beklagenswertes, wo wir Alten doch ein Bedürfnis, ja eine Sehnsucht nach Ruhe haben.
    Offensichtlich mag Hugo nicht fernsehen. Er befreit sich von seinem Hörgerät und legt sich auf mein Sofa.
    Meine Kinder haben verfügt, daß Regine und Ulrich täglich anrufen und Felix jeden zweiten Tag ins Haus platzt. Heute will er unsere schmutzige Wäsche einsammeln und bei seiner Mutter abliefern. Wieso Hugo jeden Morgen ein frisches Handtuch aus dem Schrank reißt, frage ich mich; ich komme eine gute Woche lang mit einem einzigen aus. Nun füllt er unserer Tochter die Waschmaschine.
    Felix hat noch weitere Pläne. »Kommt, wir fahren ein bißchen raus«, sagt er, »Regine hat mir ihr Auto geliehen.« Munter pfeifend verbreitet er so viel gute Laune, daß unser Mißmut verpufft.
    Hugo will zum Großen Woog. Es ist anders als früher: Man kann Autos nicht mehr einfach dort abstellen, wo man aussteigen möchte. Felix muß lange einen Parkplatz suchen, so daß wir vorerst allein am Ufer bleiben. Hugo und ich stehen Hand in Hand und blicken auf das erbswurstgelbe Wasser. »Soldadebrüh haben wir dazu gesagt«, erinnert sich Hugo, denn früher wurde das Militär zum Baden hierher getrieben.
    Der Schilfgürtel, die Pappeln, Weiden und Bötchen sind wie damals, aber kein Mann trägt mehr diese kleidsamen leichten Strohhüte mit schwarzgrünem oder rotem Ripsband. Als Felix kommt, kann Hugo endlich sein Wissen loswerden: »Hier hat sich Goethe 1775 in die trüben Fluten gestürzt!«
    Felix gähnt. »Ja, ja, der war immer und überall der erste, wahrscheinlich auch auf dem Mount Everest.«
    »Weißt du noch, Charlotte«, sagt Hugo, »es gab einmal einen besonders eisigen Winter - wann war es nur? Der Große Woog war zugefroren, und wir konnten darauf Schlittschuh laufen.«
    Ich kann mich nicht daran erinnern, denn meine Geschwister und ich pflegten die Tennisplätze am Böllenfalltor aufzusuchen, wo die Feuerwehrmänner eine Eisbahn spritzten. »Albert mochte nie mitkommen«, erzähle ich, »aber einmal habe ich ihn doch dazu überredet.«
    Fanni, Albert und ich fuhren ein Stück mit der Tram, schon unterwegs begann Albert zu frieren. Beinahe wäre er wieder heimgefahren, ohne die Eisbahn auch nur zu betreten. »Du hättest etwas Wärmeres anziehen müssen«, sagte Fanni, »man geht doch im Winter nicht ohne Mantel auf die Straße.«
    Da mir beim Schlittschuhlaufen stets

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