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Kalt, kaltes Herz

Kalt, kaltes Herz

Titel: Kalt, kaltes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Keith Ablow
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Hose.
    »Willst du einen Scotch?« fragte sie.
    Meine Boxershorts waren feucht und ungemütlich. Ich räusperte mich. »Bei einem Scotch«, krächzte ich, »sage ich nie nein.« Ich klang wie eine Parodie auf John Wayne. Dann schlug ich die Eingangstür so heftig zu, daß sie wieder aufsprang. »Die Tür hat ihre Macken!« rief sie.
    Ich versuchte es noch einmal, nun etwas behutsamer.
    »Du kannst dich ruhig umdrehen.«
    »Danke.« Ich freute mich über die Gelegenheit, wieder meine Beine – und mein Hirn – zu benutzen. Rachels Wohnung war ein Loft mit freistehenden Pfeilern und Säulen und vielen Backsteinwänden. Auf einem etwa einen Meter hohen Podest mitten an der Wand stand ein Bett aus Mahagoni, auf dem eine samtene Patchworkdecke lag. An den anderen Wänden hingen gewaltige Vergrößerungen von Schwarzweißphotos. Sie stellten Menschen dar, die im Leben gescheitert waren: Männer mit verzweifeltem Blick, die sich vor einer Suppenküche namens »Täglich Brot« drängten. Ein schwarzer Junge, höchstens acht Jahre alt, der vor einer mit Graffiti beschmierten Wand kauerte. Eine alte Frau im Rollstuhl mit schmerzverzerrtem Gesicht. Ich drehte mich zur Küche um. »Sind die Photos von dir?« fragte ich.
    »Ich habe sie hier in Chelsea gemacht«, antwortete sie. »Möchtest du Eis?«
    »Nein, pur.« Ich betrachtete noch einmal die alte Frau. Zwischen ihren Nasenlöchern und einem Sauerstofftank an ihrem Rollstuhl verliefen durchsichtige Plastikschläuche. »Romantik kann man dir wirklich nicht vorwerfen.«
    »Nein? Ich finde den Überlebenswillen dieser Leute etwas Wunderschönes. Wie bei meinem Gast mit dem Hautkrebs. ›Dem Tod ins Auge blicken‹, wie du es genannt hast.« Sie kam mit unseren Drinks zu mir.
    Mein Blick fiel auf ein ausgestopftes Tier, das dem gläsernen Couchtisch in der Mitte des Raums als Sockel diente. Es war ein Kojote mit einem gefangenen Waschbären im Maul. Die Augen des Waschbären waren ängstlich aufgerissen, doch er hatte die Klauen tief in die Schnauze des Kojoten geschlagen.
    »Glaubst du das, was du mir über die Narbe gesagt hast, wirklich?« wollte sie wissen. »Daß er ein Überlebender ist?« Das war eine gute Frage. Als ich noch praktizierte, fühlte ich mich manchmal wie ein Vertreter, der das Dasein auf diesem unglückseligen Planeten als lebenswert anpries. Unzählige Male ließ ich meine Patienten »Sicherheitsverträge« unterzeichnen, in denen sie mir schriftlich bestätigten, daß sie sich nichts antun würden. Aber hätte ich so leben wollen wie sie? Oder wie Billy?
Häng dich rein.
Warum? »Es ist völlig egal, ob
ich
ihn für einen Überlebenden halte«, antwortete ich und nahm mein Glas entgegen. »Er ist derjenige, der es glauben muß.«
    Wir gingen zu den Glastüren am anderen Ende des Raums. Sie führten auf ein Sonnendeck hinaus, von dem aus man die Tobin Bridge sehen konnte. Dieser gewaltige Bogen aus Stahl, über den man in die Innenstadt von Boston fuhr, war für den Niedergang von Chelsea verantwortlich gemacht worden, da ganze Straßenzüge niedergewalzt worden waren, um seinen Betonfundamenten Platz zu machen. Ich hatte die Brücke noch nie so genau betrachtet, und nun schlug mich ihre Großartigkeit in Bann. Ich setzte mich auf eine alte Kirchenbank, die Rachel vor die Tür gestellt hatte. »Was war früher in diesem Gebäude?« fragte ich.
    »Eine Ausbeuterfabrik«, erwiderte sie und ließ sich neben mir nieder. »Während des Vietnamkriegs wurden hier Uniformen genäht. Nach einem Brand hat der Laden dichtgemacht.« Sie zeigte auf eine verkohlte Stelle an einem Balken. »Diese Etage hat es nicht schlimm erwischt. Die anderen Stockwerke sind total ausgebrannt.« Von Verwandten, die gesellschaftlich aufgestiegen waren und Chelsea verlassen hatten, um an die Nordküste in Städtchen wie Nahani, Swampscott und Marblehead zu ziehen, wußte ich, daß Chelsea zweimal fast vollständig niedergebrannt war. Einmal 1908 und einmal 1973.
    »Du kennst ja den Spruch: Was Chelsea braucht ....«
    »... ist wieder ein Feuer. Der Witz ist uralt.« Sie trank einen Schluck. »Das hört sich zwar zynisch an, doch in gewisser Weise stimmt es. Verbesserungen erfolgen niemals schrittweise. Man muß sterben, um wiedergeboren zu werden.«
    »Das zeugt nicht gerade von Vertrauen in meinen Beruf.«
    »Tut mir leid, aber seien wir mal ehrlich: Die meisten deiner Kollegen erkennen nicht, was für ein Potential in einem Nervenzusammenbruch liegt. Einem absoluten Kollaps. Durch

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