Kalt, kaltes Herz
rief ich.
»Er will ›dem kleinen Hurensohn eine Lektion erteilen‹.«
Als ich auf dem Treppenabsatz im ersten Stock ankam, hörte ich einen Schlag. Ich rannte schneller. Dann schrie ein Kind auf. Ich handelte automatisch, gesteuert von etwas tief in meinem Innern, auf das ich keinen Einfluß hatte. Ich trat einen Schritt zurück und rammte meinen Fuß gegen die Tür. Beim ersten Tritt brach sie aus den Angeln. Ein Blick sagte mir, was hier los war. Ein etwa dreißigjähriger Mann stand in einer Ecke des Zimmers. Als er sich zu mir umdrehte, nahm ich nicht sein Gesicht wahr, sondern nur die muskelbepackte Brust und die kräftigen Arme. Mein nächster Blick galt der Frau, die im Schneidersitz auf der Couch vor mir saß und das Gesicht in den Händen verbarg. Ich sah Wieder zu dem Mann hinüber. Vor ihm auf dem Boden kauerte ein Junge von etwa sieben, acht Jahren. Aus seiner Nase rann Blut. Ohne nachzudenken ging ich auf die beiden zu. Ich hatte nicht den geringsten Zweifel, was zu tun war. Der Mann vertrat mir den Weg. Ich ging weiter. Er holte aus, doch ich packte sein Handgelenk, riß seinen Arm nach vorne und hieb meinen Handrücken in seinen Ellenbogen. Das Gelenk knackte. Er fuhr zurück und umfaßte seinen lose baumelnden Unterarm. Dann beugte er sich vor und wollte wie ein Büffel auf mich losstürmen. Ich ließ ihn bis auf einen halben Meter an mich herankommen, dann trat ich zur Seite und rammte ihm das Knie in die Brust. Keuchend stürzte er zu Boden. Aus den Augenwinkeln sah ich, daß die Frau auf mich zustürzte. Ich packte sie, wirbelte sie herum und schleuderte sie zurück auf die Couch. Dann beugte ich mich über den Mann auf dem Boden.
Zangota schob sich dazwischen. »Das reicht«, sagte er. »Den Rest übernehme ich.«
Ich versuchte ihn fortzuschieben, doch er blieb, wo er war.
»Ich sagte, ich übernehme ihn«, fuhr er mich an. »Sie sollten sich lieber um den Jungen kümmern.« Um wen?«
»Den Jungen. Ihm geht's beschissen.«
Ich fuhr herum. Der Junge richtete sich zitternd auf. In seinen Augen stand Entsetzen. Ich ging zu ihm, kniete mich hin und wischte ihm das Blut von den Lippen. Dann legte ich ihm die Hände auf die Schultern. Er ließ sich an meine Brust sinken und begann zu weinen. Ich hielt ihn in meinen Armen. Plötzlich merkte ich, daß mir seine Tränen über die Wangen liefen, doch dann wurde mir klar, daß das nicht möglich war. Sein Kopf lag auf meiner Schulter. Es waren meine eigenen Tränen.
11
Ich wartete etwa zehn Minuten auf dem Rücksitz von Zangotas Streifenwagen, dann bog eine grüne Minna in die Auffahrt ein. Kurz darauf kam Zangota mit dem Festgenommenen aus der Tür. Der ausgerenkte Unterarm des Mannes hing schlaff herunter. Die andere Hand war mit Handschellen an seinen Gürtel gefesselt. Zangota schob den Mann hinten in den Transporter, knallte die Tür zu und kam dann zu dem Streifenwagen herüber. Er zeigte auf die Metalldose neben mir. »Der beste Stoff, den Sie je kriegen werden«, sagte er. »Sie sehen so aus, als könnten Sie was gebrauchen. Ich jedenfalls würde nicht nein sagen.«
»Was passiert jetzt mit dem Jungen?« fragte ich.
»Wir wissen doch beide, was mit ihm passiert. Das Jugendamt untersucht den Fall und gibt eine Empfehlung ab.«
»Die Mutter ist unfähig.«
Er zuckte die Achseln. »Dann wird man ihn ihr wegnehmen.«
»Und ihn zu Pflegeeltern geben, wo ihn dann ein anderer Trunkenbold verprügelt.«
»Es gibt auch gute Pflegeeltern.«
»Das glaube ich erst, wenn ich es gesehen habe.«
»Ich habe es erlebt.«
»Sie waren ein Pflegekind?«
»Meine Eltern kamen mit dem Leben nicht zurecht« – Zangota lachte in sich hinein – »und irgendwann sind sie aus heiterem Himmel auf und davon. Doch dann kam ich zu guten Leuten.«
»Wo sind Ihre leiblichen Eltern jetzt?«
»Keine Ahnung.«
»Haben Sie je daran gedacht, sie zu suchen?«
»Ja, aber nichts unternommen.«
»Weil Sie sie hassen?«
»Hören Sie!« Zangota grinste. »Hier ist kein Platz für eine Psychiatercouch. Gönnen wir uns eine Nase und wenden wir uns angenehmeren Dingen zu.«
Ich betrachtete die Dose. Vor meinem inneren Auge erschienen die weißen Kristalle, und ich meinte ihren süßlichen Duft zu riechen. Ich war erschöpft und stand unter Druck – die schlimmste Kombination von allen. Und ich brauchte irgendwas zur Entspannung. Ich nahm die Dose, klappte den Deckel auf und sah hinein. Drinnen war mehr Kokain, als ich je auf einem Haufen gesehen hatte, genug, um den
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