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Kalt

Kalt

Titel: Kalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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gesprengt hätte, wenn er so still wie Shep dagestanden hätte, sagte er noch einmal: » Ich hab ’ ne Meise! «
    Einige Meilen weiter nördlich hatte sein Vater auf dem verlassenen Parkplatz eines öffentlichen Strandes vor fünfzehn Jahren Selbstmord begangen. Ohne zu wissen, dass sich ihr Leben bald radikal verändern würde, hatten Dylan und Shep vom hiesigen Hügel aus den spektakulären Dezembersonnenuntergang beobachtet, den ihr Vater durch einen Nebel aus Nembutal und Kohlenmonoxidvergiftung gesehen hatte, während er in den ewigen Schlaf gesunken war.
    Sie waren hunderte von Meilen von Holbrook, Arizona, entfernt, wo sie ins Bett gegangen waren.
    » Das gibt es nicht «, sagte Dylan. » Ich hab ’ ne Meise, ’ ne Riesenmeise und noch ein ganzes Nest voll kleiner Meisen obendrein. «
    Warmer Sonnenschein, frische Luft mit leichtem Meergeruch, im trockenen Gras zirpende Grillen – so sehr ihm alles wie ein Traum vorkam, es war wirklich vorhanden.
    Normalerweise hätte Dylan sich nicht an seinen Bruder gewandt, um den Schlüssel zu einem Geheimnis zu erfahren. Shepherd O ’ Conner war nicht gerade eine Quelle von Antworten oder klärenden Einsichten, weit eher war er ein blubbernder Brunnen aus Verwirrung, eine sprudelnde Fontäne aus Rätseln, ein wahrer Geysir aus Mysterien.
    Wandte Dylan sich in diesem Falle jedoch nicht an Shepherd, dann konnte er genauso gut die Grillen im Gras fragen oder die winzigen Mücken, die auf den trägen Brisen warmer Luft den Tag durchschwärmten.
    » Shep, hörst du mir zu? «
    Mit leicht bekümmertem Lächeln betrachtete Shep das Haus am Fuß des Hügels.
    » Shep, du musst mir jetzt zuhören. Sprich jetzt mit mir! Shep, du musst mir unbedingt sagen, wie du hierher gekommen bist! «
    » Meise «, sagte Shep, » Amsel, Drossel, Fink … «
    » Fang bloß nicht damit an! «
    » … Star, Stieglitz, Steinschmätzer … «
    » Das kommt jetzt nicht infrage, Shep. «
    » … Goldhähnchen, Grasmücke … «
    Dylan stellte sich vor seinen Bruder, packte ihn fest bei den Schultern und schüttelte ihn, um seine Aufmerksamkeit zu erzwingen. » Shep, schau mich an, sieh mir in die Augen, sei hier bei mir. Wie bist du hierher gekommen? «
    » … Lerche, Zaunkönig … «
    » Jetzt reicht es aber! « Dylan schüttelte seinen Bruder so heftig, dass dessen Litanei von Singvögeln nur noch stotternd kam. » Hör auf mit diesem Scheiß, hör auf damit! «
    » … Schwalbe, Hänfling … «
    Dylan ließ Sheps Schultern los, packte mit beiden Händen seitlich dessen Kopf und hielt ihn wie in einem Schraubstock.
    » Versteck dich nicht vor mir, komm mir jetzt nicht mit deinem üblichen Mist, nicht, wo so was passiert ist, Shep, nicht jetzt! «
    » … Mauersegler, Nachtigall. «
    So sehr Shepherd sich auch bemühte, das Kinn auf der Brust zu halten, Dylan zwang seinen Kopf unerbittlich in die Höhe. » Hör mir zu, sprich mit mir, schau mich an! «
    Mit Muskelkraft zu einer Konfrontation gezwungen, schloss Shepherd die Augen. » Bachstelze, Heckenbraunelle … «
    Zehn Jahre voller Enttäuschung und Geduld, zehn Jahre voller Opfer, zehn Jahre Wachsamkeit, um Shep daran zu hindern, sich unabsichtlich wehzutun, tausende von Tagen, in denen Dylan beim Essen alles in ordentliche Rechtecke und Quadrate geschnitten hatte, unzählige Stunden, in denen er sich Sorgen gemacht hatte, was wohl mit Shepherd geschehe n w ürde, sollte das Schicksal ihn länger leben lassen als ihn selbst … all dies und noch viel mehr hatte sich wie ein unsichtbarer Felsklotz auf dem anderen bleischwer auf Dylan gelegt, bis ihn das angesammelte Gewicht zu Boden gedrückt hatte und er nicht mehr aufrichtig sagen konnte: Er ist keine Last, er ist mein Bruder.
    Shepherd war nämlich unbestreitbar eine Last, er war unendlich schwer, schwerer als der Felsblock, den Sisyphos im Hades einen steilen, dunklen Berg hinaufrollen musste, schwerer als die Welt, die der Riese Atlas auf den Schultern trug.
    » … Dompfaff, Rotkehlchen … «
    Von Dylans großen Händen wurden Shepherds Gesichtszüge zusammengedrückt wie die eines schmollenden Babys, das kurz davor war, in Tränen auszubrechen.
    » … Amsel, Fink, Star … «, nuschelte er mit verzerrtem Mund.
    » Jetzt wiederholst du dich «, sagte Dylan wütend. » Immer wiederholst du dich. Tag für Tag, Woche um Woche, immer diese unerträgliche Routine, Jahr für Jahr, immer dieselben Klamotten, die winzige Liste von mistigem Zeug, das du bereit bist zu essen, immer wäschst

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