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Kalt

Kalt

Titel: Kalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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du dir zweimal die Hände, stehst immer neun Minuten unter der Dusche, nie acht, nie zehn, immer genau neun; und dein ganzes Leben ziehst du den Kopf ein und starrst auf deine Schuhe, immer dieselben dämlichen Ängste, dieselben Tics und Marotten, die einen rasend machen, didel-dudel-didel, immer diese endlose Wiederholung, diese endlose dumme Wiederholung! «
    » … Schwalbe, Mauersegler, Nachtigall … «
    Mit dem rechten Zeigefinger versuchte Dylan, das linke Augenlid seines Bruders hochzuschieben, es gleichsam aufzustemmen. » Schau mich an, Shep, schau mich an, sieh her, sieh endlich her! «
    » … Bachstelze, Rotkehlchen … «
    Obwohl Shep die Arme hängen ließ und keinen weiteren Widerstand leistete, presste er die Augen so fest zu, dass Dylans Zeigefinger keine Chance hatte.
    » … Lerche, Grasmücke … «
    » Schau mich an, du kleiner Scheißer! «
    » … Hänfling, Zaunkönig … «
    » Schau mich endlich an! «
    Shep gab seinen Widerstand auf. Sein linkes Auge zuckte auf, wobei das Lid von Dylans Finger fast bis an die Augenbraue gepresst wurde. Nun war ein Kontakt zwischen den Brüdern hergestellt, wie er so direkt nur selten bestanden hatte, aber Sheps einäugiges Starren hätte auf jedes Horrorfilmplakat gepasst. Ein abgrundtiefer Schrecken lag in diesem Blick, dem Blick eines Opfers, kurz bevor diesem ein bösartiger Besucher aus einer anderen Welt die Kehle aufschlitzte, bevor ihm ein Zombie das Herz herausriss, bevor ein wahnsinniger Psychiater ihm den Schädel aufsägte und sein Gehirn zu einem guten Bordeaux verspeiste.
    Schau mich an … Schau mich an … Schau mich an …
    Dylan hörte diese drei Worte von den Hügeln widerhallen und mit jeder Wiederholung leiser werden. Obwohl er wusste, dass er das eigene wütende Gebrüll hörte, klang die Stimme wie die eines Fremden. Sie war hart, scharf und von einer stählernen Wut erfüllt, die Dylan sich nie zugetraut hätte, aber sie zitterte auch vor einer Angst, die er nur zu gut wiedererkannte.
    Ein Auge fest geschlossen, das andere maximal aufgerissen, sagte Shepherd: » Shep hat Angst. «
    Jetzt schauten sich die beiden an, wie Dylan es gewollt hatte, Auge in Auge, ein direkter, kompromissloser Kontakt. Sheps panisches Starren bohrte sich in Dylan hinein, bis dessen Lunge kaum noch mit Luft versorgt wurde und bis sein Herz sich schmerzhaft verkrampfte, als hätte eine Nadel es in der Mitte aufgespießt.
    » Shep hat A-a-angst. «
    Ja, Shepherd hatte Angst, das stimmte, er war total verängstigt, keine Frage, vielleicht so sehr, wie er es bei seinen vielen Angstzuständen der letzten zwanzig Jahre noch nie gewesen war. Und während er sich wahrscheinlich eben noch vor dem leuchtenden Tunnel gefürchtet hatte, durch den er blitzschnell von der Wüste Arizonas zur Küste Kaliforniens gereist war, hatte seine Bestürzung nun eine andere Ursache. Es war sein Bruder, der plötzlich ein Fremder für ihn geworden war, ein brüllender, aggressiver Fremder, so als hätte das Licht der Sonne das des Mondes nachgeahmt und Dylan aus einem Menschen in einen Werwolf verwandelt.
    » Sh-shep hat Angst. «
    Entsetzt über den Schrecken, mit dem sein Bruder ihn ansah, nahm Dylan den bohrenden Zeigefinger weg, ließ Sheps Kopf los und trat zurück. Er zitterte vor Reue und Ekel vor sich selbst.
    » Shep hat Angst «, sagte sein Bruder. Nun waren beide Augen weit aufgerissen.
    » Es tut mir Leid, Shep. «
    » Shep hat Angst. «
    » Es tut mir so Leid. Ich wollte dir keinen Schrecken einjagen, Kleiner. Ich hab nicht gemeint, was ich gesagt hab, nichts davon, vergiss es einfach. «
    Shepherds panisch aufgeklappte Augenlider sanken herab. Dann ließ er die Schultern hängen, senkte den Kopf und legte ihn schräg, bis er die demütige, linkische Haltung angenommen hatte, mit der er der Welt mitteilte, dass er harmlos war. Mithilfe dieser Pose hoffte er, durchs Leben trotten zu können, ohne Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, vor allem nicht die von Leuten, die ihm vielleicht gefährlich werden konnten.
    Die Konfrontation mit Dylans Ausbruch hatte er bestimmt noch nicht vergessen. Er hatte immer noc h reichlich Angst. Auch über seine verletzten Gefühle war er sicher nicht so schnell hinweggekommen, vielleicht würde er das nie tun. Aber in welcher Lage Shepherd sich auch befan d, seine einzige Verteidigung bestand darin, eine Schildkröte nachzuahmen, indem er umgehend alle verwundbaren Teile einzog, sich duckte und sich in einem Panzer aus Gleichgültigkeit

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