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Kaltblütig

Titel: Kaltblütig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Truman Capote
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Räucherschinken, ein Radio und ein Gewehr. Es war fantastisch.
    Den ganzen Tag mit der Knarre an der frischen Luft. Die Sonne im Gesicht. Mann, war das schön. Ich kam mir vor wie Tarzan. Und abends aß ich Bohnen mit gebratenem Schinken, wickelte mich in eine Decke, legte mich vor den Kamin und hörte Radio, bis ich einschlief. Ich war ganz allein da oben, keine Menschenseele weit und breit.
    Ich hätte glatt bis zum Frühling bleiben können.« Und genau das hatte Dick auch vor, falls ihm die Flucht gelang – sich in den Bergen von Colorado eine Hütte suchen, wo er bis zum Frühjahr untertauchen konnte (natürlich allein; was aus Perry wurde, war ihm egal). Die Aussicht auf ein solch idyllisches Intermezzo beflügelte ihn, in aller Heimlichkeit weiter seinen Draht zu wetzen, ihn zu einer elastischen, stilettähnlichen Klinge zu schleifen.
     
    Donnerstag, 10. März. Zellendurchsuchung. Sheriff hat die ganze Bude auf den Kopf gestellt und unter Ds Matratze eine Schneide gefunden. Was er damit wohl vorhatte (grins).
     
    Dabei war Perry eigentlich gar nicht zum Grinsen zumute, denn mit einer gefährlichen Waffe in der Hand hätte Dick in Perrys Plänen eine entscheidende Rolle spielen können. Im Lauf der letzten Wochen hatte er sich mit dem Treiben auf dem Courthouse Square, seinen regelmäßigen Besuchern und deren Gewohnheiten vertraut gemacht. Die Katzen zum Beispiel: die beiden dürren, grauen Kater, die bei Einbruch der Dämmerung über den Platz schlichen und die ringsum geparkten Wagen inspizierten – ein Verhalten, das ihn vor ein Rätsel stellte, bis Mrs. Meier ihm erklärte, dass die Katzen nach toten Vögeln suchten, die sich in den Kühlergrills der Fahrzeuge verfangen hatten. Seither empfand er es als quälend, ihren Manövern zuzusehen: »Weil ich praktisch mein Leben lang das Gleiche getan habe wie sie. Im übertragenen Sinne.«
    Ein Mann war Perry dabei besonders aufgefallen, ein älterer, vierschrötiger Herr mit aufrechtem Gang und silbergrauem Haar, das ihm auf dem Kopf saß wie ein Scheitelkäppchen; das Gesicht, massig, markant, wirkte im Ruhezustand irgendwie mürrisch, die Mundwinkel hängend, die Augen gesenkt, als sei er in einem freudlosen Traum gefangen – ein Bild gnadenloser Strenge.
    Und doch stimmte dieser Eindruck nur zum Teil, denn hin und wieder ertappte der Gefangene ihn dabei, wie er mit anderen Männern sprach, scherzte und lachte, und dann schien er fröhlich, großzügig, gelöst: »Die Sorte Mensch, die vielleicht auch das Menschliche sieht« – eine nicht unwichtige Eigenschaft, denn der Mann war Roland H. Tate, Richter des 32. Justizdistrikts und damit der Jurist, der im Prozess Kansas gegen Hickock und Smith den Vorsitz führte. Die Tates waren, wie Perry bald erfahren sollte, eine der ältesten, angesehensten Familien in West-Kansas. Der Richter war reich, er züchtete Pferde, besaß ausgedehnte Ländereien und hatte eine wunderschöne Frau. Er war Vater zweier Söhne, doch der Jüngere war gestorben, eine Tragödie, die den Eltern solche Qualen bereitet hatte, dass sie einen kleinen Jungen adoptierten, der eines Tages als obdachloses Waisenkind vor Gericht erschienen war. »Er scheint ein weiches Herz zu haben«, sagte Perry einmal zu Mrs. Meier. »Vielleicht drückt er ein Auge zu.«
    Aber daran glaubte Perry eigentlich nicht; er glaubte, was er Don Cullivan geschrieben hatte, mit dem er inzwischen regelmäßig korrespondierte: Seine Tat sei »unverzeihlich«, weshalb er sich damit abgefunden habe, »die dreizehn Stufen hinaufsteigen« zu müssen. Trotzdem war er nicht ganz ohne Hoffnung, denn auch er hatte sich einen Fluchtplan zurechtgelegt. Dazu bedurfte er jedoch der Hilfe zweier junger Männer, die er des Öfteren dabei beobachtet hatte, wie sie ihn beobachtet hatten.
    Der eine hatte rotes, der andere dunkles Haar. Sie standen manchmal auf dem Platz, unter dem Baum, der bis ans Zellenfenster reichte, und machten ihm lächelnd Zeichen – das bildete er sich zumindest ein. Und obgleich zwischen ihnen nie ein Wort gefallen war und die beiden sich stets nach kaum einer Minute wieder trollten, hatte sich der Gefangene eingeredet, dass ihm die beiden jungen Männer, wahrscheinlich aus Abenteuerlust, zur Flucht verhelfen wollten. Darum fertigte er eine Skizze des Courthouse Square an und zeichnete die Stellen ein, wo sich ein »Fluchtwagen« seiner Meinung nach am günstigsten platzieren ließe. Darunter schrieb er:
     
    Ich brauche ein 5-Zoll-Metallsägeblatt.

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