Kaltblütig
er sich im Moment am nächsten fühlte, denn sie waren vom selben Schlag, Brüder im Zeichen Kains; getrennt von ihm fühlte sich Perry »wie ein Ausgestoßener. Wie jemand, der mit Wunden übersät ist. Jemand, mit dem nur ein Wahnsinniger etwas zu tun haben möchte.«
Doch dann, eines Morgens Mitte Februar, bekam Perry einen Brief. Er war in Reading, Mass. abgestempelt und lautete:
Lieber Perry, als ich erfuhr, dass Du in Schwierigkeiten steckst, beschloss ich, Dir zu schreiben, damit Du weißt, dass ich Dich nicht vergessen habe und Dir helfen möchte, so gut ich kann. Für den Fall, dass Dir der Name Don Cullivan nichts sagt, habe ich ein Foto aus der Zeit beigelegt, als wir uns kennen lernten. Als ich neulich in der Zeitung von Dir las, bekam ich erst mal einen Schreck, aber dann dachte ich an unsere gemeinsame Zeit zurück. Obwohl wir nie eng befreundet waren, bist Du mir in weitaus besserer Erinnerung geblieben als die meisten anderen Kameraden aus der Army. Es muss im Herbst 1951 gewesen sein, als Du der 761. Leichten Pionierkompanie in Fort Lewis, Washington, zugeteilt wurdest. Du warst klein (ich bin nicht viel größer), kompakt gebaut, ein dunkler Typ mit dichtem schwarzem Haar, der ständig grinste. Da Du eine Weile in Alaska gelebt hattest, nannten Dich die meisten Jungs nur »Eskimo«. Eine meiner frühesten Erinnerungen an Dich ist ein Stubendurchgang mit Spindbesichtigung. Wenn ich mich recht entsinne, waren alle Spinde in Ordnung, auch Deiner, nur dass die Innentür Deines Spinds mit Bildern von Pin-Up-Girls gepflastert war. Alle dachten, das gibt Ärger. Aber der Spieß ließ sich davon nicht beirren, und als es vorbei war und er es hatte durchgehen lassen, da dachten wir, Junge, Junge, dieser Perry ist kalt wie ’ne Hundeschnauze. Ich erinnere mich auch, dass Du ein ziemlich guter Billardspieler warst, und sehe Dich noch deutlich vor mir, am Billardtisch im Gemeinschaftsraum der Kompanie. Du warst einer der besten Lastwagenfahrer in der Einheit. Erinnerst Du Dich an die Feldübungen, auf denen wir damals waren? Bei einer Winterübung wurden wir gemeinsam zum Transportdienst eingeteilt. Die Wagen unserer Einheit hatten keine Heizung, und im Führerhaus war es eiskalt. Ich weiß noch, wie Du ein Loch in den Boden Deines Lasters geschweißt hast, damit die Wärme des Motors das Führerhäuschen heizen konnte. Ich erinnere mich deshalb so gut daran, weil die »mutwillige Zerstörung« von Army-Eigentum ein Vergehen war, das im Allgemeinen hart bestraft wurde. Klar, ich war noch ein ziemlicher Grünschnabel damals und nahm es mit den Vorschriften wahrscheinlich etwas zu genau, aber ich weiß noch, wie Du Dich darüber lustig machtest (und es schön warm hattest), während ich die Hosen voll hatte (und fror). Ich meine, mich zu erinnern, dass Du Dir ein Motorrad zugelegt hast, und entsinne mich dunkel, dass Du damit Ärger hattest – eine Verfolgungsjagd mit der Polizei? Ein Unfall? Jedenfalls wurde mir damals erst bewusst, was für ein wilder Bursche Du warst. Wahrscheinlich lässt mich meine Erinnerung hier und da im Stich; das alles ist immerhin acht Jahre her, und wir waren gerade mal acht Monate zusammen. Aber soweit ich mich entsinne, kam ich prima mit Dir aus und mochte Dich eigentlich sehr gern. Du warst immer fröhlich und ausgelassen, hast Deine Arbeit gut gemacht und Dich meines Wissens nie beklagt. Klar, Du warst ein wilder Bursche, aber davon habe ich kaum etwas gemerkt. Aber diesmal steckst du wirklich in der Klemme. Ich versuche, mir vorzustellen, wie Du heute bist. Was Du so denkst. Als ich das erste Mal von Dir gelesen habe, war ich wie vor den Kopf geschlagen. Wirklich. Aber dann legte ich die Zeitung weg und beschäftigte mich mit etwas anderem. Aber meine Gedanken kehrten immer wieder zu Dir zurück. Ich konnte Dich einfach nicht vergessen. Ich bin ziemlich religiös (katholisch) oder bemühe mich zumindest. Das war nicht immer so. Früher habe ich mich einfach treiben lassen, ohne einen Gedanken an die wirklich wichtigen Dinge zu verschwenden. Ich habe nie über den Tod nachgedacht oder über das Leben danach. Dazu genoss ich das Leben viel zu sehr: Auto, College, Mädchen usw. Aber mit 17 starb mein kleiner Bruder an Leukämie. Er wusste, dass er sterben musste, und später fragte ich mich, was ihm dabei wohl durch den Kopf gegangen war. Und jetzt denke ich an Dich und frage mich, was Dir wohl durch den Kopf geht. In den letzten Wochen vor seinem Tod wusste ich nicht,
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