Kaltblütig
was ich zu meinem Bruder sagen sollte. Aber jetzt weiß ich, was ich sagen würde. Und darum schreibe ich Dir: weil Gott Dich genauso erschaffen hat wie mich und weil er Dich genauso liebt wie mich und weil das, was Dir passiert ist, nach dem Wenigen, was wir über Gottes Willen wissen, auch mir hätte passieren können. Dein Freund Don Cullivan.
Der Name sagte ihm nichts, aber das Gesicht auf dem Foto erkannte Perry sofort: ein junger Soldat mit Bürstenschnitt und runden, schrecklich ernsten Augen. Er las den Brief immer und immer wieder; obwohl er die religiösen Anspielungen wenig überzeugend fand (»Ich habe versucht zu glauben, aber es geht nicht, ich kann nicht, da beißt die Maus keinen Faden ab«), freute er sich wahnsinnig über den Brief. Hier war jemand, der ihm seine Hilfe anbot, ein grundsolider, unbescholtener Mann, der ihn kannte und mochte, ein Mann, der mit Freund unterzeichnet hatte. Dankbar und ohne eine Sekunde zu verlieren, machte er sich an eine Antwort: »Lieber Don, und ob ich mich an Don Cullivan erinnere …«
Hickocks Zelle hatte kein Fenster; er sah auf einen breiten Gang und die Zellen gegenüber. Aber er war nicht allein, er hatte Menschen um sich, mit denen er sprechen konnte, eine bunte, schier endlose Parade von Säufern, Fälschern, prügelnden Ehemännern und mexikanischen Herumtreibern; und Dick mit seinen lockeren »Ganoven«-Sprüchen, seinen Sex-Anekdoten und schlüpfrigen Witzen war bei den anderen Insassen beliebt (nur einen gab es, der rein gar nichts für ihn übrig hatte – ein alter Mann, der ihn als »Mörder! Mörder!« beschimpfte und ihn einmal mit einem Eimer schmutzigem Putzwasser übergossen hatte).
Nach außen hin erschien Hickock als ein ungewöhnlich unbeschwerter junger Mann. Wenn er nicht gerade schlief oder sich unterhielt, lag er rauchend oder Kaugummi kauend auf seiner Pritsche und las Sportzeitschriften oder Kriminalromane. Oft lag er einfach da und pfiff alte Schlager (»You Must Have Been a Beautiful Baby«, »Shuffle Off to Buffalo«) oder starrte auf die nackte Glühbirne an der Zellendecke, die Tag und Nacht brannte. Er hasste das ewige Licht; es störte ihn nicht nur beim Schlafen, sondern gefährdete vor allem den Erfolg seines geheimen Vorhabens – Flucht. Der Gefangene war nämlich keineswegs so gleichgültig oder resigniert, wie er sich gab, im Gegenteil; er war buchstäblich zu allem bereit, um der »Großen Schaukel« zu entgehen. Da er davon überzeugt war, dass diese am Ende des Prozesses stehen würde – zumal dieser Prozess in Kansas stattfand –, wollte er »ausbrechen, ’ne Karre knacken und dann ab durch die Mitte«. Aber dazu brauchte er eine Waffe; und genau die hatte er schon seit Wochen »in der Mache«: eine »Schneide«, ein Instrument, das stark an einen Eispicker erinnert – und mit tödlicher Präzision zwischen die Schulterblätter von Hilfssheriff Wendle Meier passen würde. Die Bestandteile der Waffe, ein Stück Holz und ein Stück Hartdraht, stammten ursprünglich von einer Toilettenbürste, die er entwendet, zerlegt und unter seiner Matratze versteckt hatte. Spätnachts, wenn nichts zu hören war außer Schnarchen, Husten und dem wehmütig klagenden Pfeifen der Santa-Fe-Züge, die durch die dunkle Stadt ratterten, schliff und schärfte er den Draht am Betonfußboden der Zelle. Und dabei schmiedete er Pläne.
Einmal, im ersten Winter nach seinem High-School-Abschluss, war Hickock per Anhalter durch Kansas und Colorado gefahren: »Damals war ich auf der Suche nach ’nem Job. Ein Lastwagenfahrer hatte mich mitgenommen, und wir kriegten uns irgendwie in die Haare, ohne besonderen Grund, aber er polierte mir die Fresse.
Schmiss mich raus. Und ließ mich einfach stehen. Mitten in den Rockies. Es regnete und schneite wie verrückt, ich lief meilenweit, und meine Nase blutete wie fuffzehn Schweine. Ich kam zu einem kleinen Hüttendorf an einer bewaldeten Böschung. Sommerhütten, allesamt verrammelt und um diese Jahreszeit natürlich leer. Da hab ich einfach eine aufgebrochen. Es gab Feuerholz, Konserven, sogar Whisky. Ich hab mich eine Woche lang da eingenistet, und es ist mir mein Lebtag nicht so gut gegangen. Obwohl mir die Nase höllisch wehtat und meine Augen grün und blau geschwollen waren. Und dann hörte es auf zu schneien, und die Sonne kam heraus.
So einen Himmel haben Sie noch nie gesehen. Wie in Mexiko. Wenn Mexiko ein kälteres Klima hätte. Ich durchstöberte die anderen Hütten und fand
Weitere Kostenlose Bücher