Kaltblütig
sagte, eine Tante und ein Onkel hätten ihn besucht. Sie wollten ihn im Sarg nach Nord-Missouri bringen und ihn auf einem kleinen Friedhof begraben, gleich neben den dreien, die er erledigt hatte. Er sagte, als sie ihm das erzählten, hätte er beinahe laut losgeprustet. Ich sagte: ›Sei doch froh. Du hast wenigstens ein Grab. Perry und mich übergeben sie wahrscheinlich dem Abdeckern.‹ Wir rissen Witze, bis es so weit war, und kurz bevor er ging, gab er mir einen Zettel mit einem Gedicht. Ich weiß nicht, ob es von ihm war. Oder aus einem Buch. Ich hatte den Eindruck, es war von ihm. Wenn es Sie interessiert, schicke ich es Ihnen.«
Er hielt sein Versprechen, und wie sich herausstellte, handelte es sich bei Andrews’ Abschiedsbotschaft um die neunte Strophe von Grays »Elegie, geschrieben auf einem Dorfkirchhofe«:
Der Wappen Prahlerei, der Pomp der Macht,
Was je der Reichtum und was Schönheit gab,
Sinkt unerlöslich hin in eine Nacht;
Der Pfad der Ehre führet nur ins Grab.
»Ich hatte Andy richtig gern. Er war irre – nicht so wie die Irren, die von morgens bis abends rumbrüllen; aber irgendwie hatte er sie nicht mehr alle. Er redete ständig davon, dass er ausbrechen und als Profikiller Karriere machen wollte. Er stellte sich vor, wie er mit ’nem Maschinengewehr im Geigenkasten durch Los Angeles oder Chicago zieht. Er wollte pro Leiche tausend Dollar nehmen.«
Hickock lachte, vermutlich über die Absurdität der ehrgeizigen Pläne seines Freundes, und schüttelte seufzend den Kopf. »Aber für sein Alter war er so ziemlich der cleverste Bursche, der mir je untergekommen ist. Eine wandelnde Bibliothek. Wenn der ein Buch gelesen hatte, dann hatte er es auswendig im Kopf. Dafür hatte er vom Leben keinen blassen Schimmer. Ich hab ja nun eigentlich von nichts ’ne Ahnung, aber mit dem Leben kenn ich mich aus. Mir ist nichts Menschliches fremd. Ich hab gesehen, wie ein Weißer ausgepeitscht wurde. Ich hab Geburten miterlebt. Ich hab gesehen, wie eine Nutte, nicht älter als vierzehn, es mit drei Kerlen auf einmal trieb, und sie hat es ihnen allen gründlich besorgt. Einmal bin ich fünf Meilen vor der Küste von ’nem Schiff gefallen.
Ich bin die fünf Meilen geschwommen, und bei jedem Zug rauschte mein Leben an mir vorbei. Einmal habe ich Präsident Truman in der Lobby des Hotels Muhlebach die Hand geschüttelt. Harry S. Truman. Als ich im Krankenhaus gearbeitet hab, als Krankenwagenfahrer, da hab ich das Leben richtig kennen gelernt, mit all seinen Lichtund Schattenseiten – da hab ich Sachen gesehen, bei denen selbst ’nem Hund das Kotzen käme. Aber Andy. Er hatte nicht den blassesten Schimmer, er kannte alles nur aus Büchern.
Er war unschuldig wie ein Kind, ein kleiner Junge mit ’ner Schachtel Cracker Jack. Er hatte noch nie mit einer Frau geschlafen. Nicht ein einziges Mal. Das hat er mir selbst gesagt. Ich glaube, das hat mir an ihm am meisten imponiert. Dass er nie versucht hat, sich besser zu machen, als er war. Wir anderen sind ja alles große Schwätzer. Ich bin einer der Schlimmsten. Über irgendwas muß man ja reden. Und wer nicht angibt, ist ein Niemand, ein Nichts, ein armes Würstchen, das in der Vorhölle seiner Sechs-Quadratmeter-Zelle vor sich hin gammelt. Aber Andy war dafür nicht zu haben. Er sagte, wozu soll ich euch einen vom Pferd erzählen?
Der gute Perry dagegen, der war eigentlich ganz froh, dass er Andy das letzte Mal gesehen hatte. Andy war nämlich genau das, was Perry immer sein wollte – gebildet. Und das nahm Perry ihm übel. Sie wissen ja, wie geschwollen Perry immer daherredet, obwohl er meistens gar nicht weiß, was die Wörter überhaupt bedeuten. Wie so ’n College-Nigger. Junge, Junge, das hat ihn schwer gewurmt, dass Andy da locker mithalten konnte und ihn von seinem hohen Ross runtergeholt hat. Dabei wollte Andy ihm eigentlich bloß das angedeihen lassen, was er sich so sehr wünschte – Bildung. Im Grunde ist mit Perry kein Auskommen. Er hat hier drin keinen einzigen Freund. Was bildet der sich eigentlich ein? Macht sich über alle lustig. Nennt sie abartig und pervers. Verspottet sie wegen ihrem angeblich so niedrigen IQ. Zu dumm, dass wir nicht alle so sensible Seelchen sind wie Perry.
Heilige. Ich kann Ihnen sagen, ich kenn ein paar schwere Jungs, die mit Freuden in die Ecke gehen würden, wenn sie sich Perry in der Dusche mal ordentlich zur Brust nehmen könnten. Wie der York und Latham abkanzelt!
Ronnie sagt, er würde wer weiß was
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