Kaltblütig
lautet – haben mittellose Angeklagte, deren Schuld zweifelsfrei erwiesen ist, das Recht auf eine umfassende Verteidigung? Der Tod der Kläger wird dem Staate Kansas auf Dauer vermutlich keinen allzu großen Schaden zufügen. Vom Untergang des Rechtssystems wird er sich jedoch mit Sicherheit nicht mehr erholen.«
Shultz stellte unter Berufung auf den Habeas Corpus Act einen Antrag auf Haftprüfung, und der Kansas Supreme Court betraute einen seiner pensionierten Richter, den ehrenwerten Walter G. Thiele, mit der umfassenden Beweisaufnahme. Und so kam es, dass der Fall fast zwei Jahre nach Abschluss des Prozesses neu verhandelt wurde. Sämtliche Akteure des Verfahrens fanden sich im Gericht von Garden City ein, nur die damaligen Angeklagten fehlten; an ihrer Stelle saßen nun Richter Tate, der alte Mr. Fleming und Harrison Smith, deren Karriere auf dem Spiel stand – nicht wegen der gegen sie erhobenen Vorwürfe seitens der Berufungskläger, sondern weil die Anwaltskammer diesen offensichtlich Glauben schenkte.
Das Beweisaufnahmeverfahren, das zum Zwecke der Vernehmung von Hickock und Smith durch Richter Thiele vorübergehend nach Lansing verlegt werden musste, dauerte sechs Tage; schließlich waren sämtliche Fragen geklärt. Acht Geschworene hatten unter Eid versichert, sie hätten die ermordete Familie nicht gekannt; vier räumten ein, mit Mr. Clutter flüchtig bekannt gewesen zu sein, doch alle, auch der Flughafenangestellte N. L. Dunnan, der sich bei der Befragung zu der strittigen Bemerkung hatte hinreißen lassen, versicherten, ihr Geschworenenamt frei von Befangenheit angetreten zu haben. Shultz hakte nach. »Sir«, wandte er sich an Dunnan, »hätten Sie als Angeklagter nicht auch etwas dagegen, wenn ein Geschworener so denken würde wie Sie?« Dunnan verneinte, und Shultz sagte: »Erinnern Sie sich, dass man Sie gefragt hat, ob Sie für oder gegen die Todesstrafe seien?« Der Zeuge nickte und antwortete:
»Ich habe gesagt, unter normalen Umständen wäre ich dagegen. Aber angesichts der Schwere der Tat könnte ich wahrscheinlich dafür stimmen.«
Schwieriger war es, mit Tate fertig zu werden; Shultz merkte bald, dass er einen Tiger am Schwanz gepackt hatte. Auf die Frage nach seiner angeblichen Freundschaft mit Mr. Clutter sagte der Richter: »Er (Clutter) war einmal Prozesspartei in einem Fall, bei dem ich den Vorsitz führte, einer Schadenssache; auf seinem Grundstück war ein Flugzeug abgestürzt, und er klagte auf Schadenersatz für – einige Obstbäume, wenn mich nicht alles täuscht. Davon abgesehen hatte ich keinerlei Kontakt mit ihm. Nicht den geringsten. Ich sah ihn vielleicht einoder zweimal im Jahr …« Verunsichert wechselte Shultz das Thema. »Ist Ihnen bekannt«, fragte er, »wie die Leute hier über die beiden Männer dachten, nachdem diese gefasst worden waren?« »Ich glaube schon«, erwiderte der Richter mit unverhohlener Herablassung. »Meiner Meinung nach dachten die Leute nicht anders über sie als über jeden anderen Angeklagten – sie sollten ein rechtmäßiges Verfahren bekommen, bei erwiesener Schuld verurteilt und genauso fair behandelt werden wie jeder andere. Sie hegten keine Vorurteile ihnen gegenüber, nur weil sie wegen eines Verbrechens vor Gericht standen.« »Sie meinen«, sagte Shultz siegesgewiss, »Sie sahen keine Veranlassung, von sich aus eine Verlegung des Verhandlungsortes zu verfügen?« Tate schürzte verächtlich die Lippen, seine Augen glühten.
»Mr. Shultz«, sagte er, und aus seinem Munde klang der Name wie ein langgezogenes Zischen, »das Gericht kann eine Verlegung des Verhandlungsortes nicht von sich aus verfügen. Das verstieße gegen geltendes Gesetz. Einer Verlegung hätte ich nur auf ausdrücklichen Antrag stattgeben können.«
Aber warum hatte die Verteidigung einen solchen Antrag nicht gestellt? Diese Frage richtete er jetzt an die Verteidiger selbst, denn sie in Misskredit zu bringen und zu beweisen, dass sie ihren Mandanten selbst ein Mindestmaß an Schutz verwehrt hatten, war in den Augen des Rechtsanwalts aus Wichita der Hauptzweck der Verhandlung. Fleming und Smith parierten diesen Angriff in vollendeter Manier, besonders Fleming, der Shultz, mit einer grellroten Krawatte um den Hals und einem unbeirrten Lächeln auf den Lippen, mit vornehmer Noblesse ertrug. Auf die Frage, warum er keine Verlegung des Verhandlungsorts beantragt habe, sagte er: »Da Reverend Cowan, der hiesige Methodistenpriester und ein Mann von hohem Rang und Ansehen,
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