Kaltduscher
Volksschauspieler verlorengegangen, aber Inzaghi ist in dieser Disziplin unangefochten der Größte. Und immer wenn er von einem nicht vorhandenen Fuß getreten durch den Strafraum segelt, sich anschließend von virtuellen Schmerzen gepeinigt auf dem Rasen hin- und herwirft und wir kollektiv vor dem Fernseher in unserer Küche abkotzen, dann sind wir wie ein Mann, Tobi, Gonzo, Hendrik, ich – und sogar Francesco, der findet, dass Inzaghis breite Mundpartie die Proportionen seines gesamten Gesichts zerstören.
Unsere kollektive Inzaghi-Aversion tritt sogar physisch in Erscheinung: In unserem Flur steht ein Inzaghi-Hass-Altar. Gut, eigentlich ist es nur eine rührend spießige Spiegelkommode aus der Jugendzeit unserer Urgroßeltern. Keiner weiß, wo sie herkommt. Sie steht vermutlich schon seit der Kaiserzeit an diesem Platz, und keiner würde je wagen, sie auch nur um einen Zentimeter zu verschieben, weil das sicher Unglück bringt. Die Verwandlung zum Inzaghi-Hass-Altar begann, als Gonzo vor zwei Jahren ein Bild von ihm, wie er in herrlich theatralischer Pose auf dem Rasen kauert, mit der einen Hand anklagend auf sein angeblich verletztes Bein weisend, mit der anderen den Schiedsrichter anflehend, aus einer italienischen Zeitung ausgeschnitten und an den Spiegel geklebt hat. Der Rest war ein Selbstläufer. Wir sammelten ab diesem Tag manisch alle jammernden, pseudoverletzten Inzaghis, die wir nur kriegen konnten, und klebten sie an die Kommode, und irgendwann begann Tobi, die Lücken zwischen den Inzaghis mit Bildern von Krankenschwestern zu füllen, die sich um ihn kümmern sollten…
»Oliver, kommst du? Herr Dr. Grobe hat gesagt, du hilfst mit im Lager.«
»Oh, schon so weit? Ich komme.«
*
Raaatsch!
Doch, ich bleibe dabei, Lagerarbeit ist großartig, wenn man vorher stundenlang nur herumgesessen hat. Da spürt man wieder seinen Körper und so weiter. Trotzdem, Lagerarbeit in einem Museum hat auch Nachteile. Die Transportkisten für Kunstwerke sind ein einziger Alptraum. Ihnen liegt ein zutiefst unharmonisches Designprinzip zugrunde. Es geht nur um das Innen. Klar, den niedlichen kleinen Kunstwerken darf um Himmels willen nichts passieren. Da wird gesichert, luftgepolstert und vakuumverpackt, dass die Schwarte kracht. Das Außen wird dagegen völlig vernachlässigt. Dass die Hanseln, die die Kisten tragen müssen, vielleicht Griffe gebrauchen könnten, oder dass es, wenn es schon keine Griffe gibt, gut wäre, wenn die Kisten nicht aus derart rauem Holz gebaut würden, dass die Splitter sogar noch durch Bauhandschuhe durchpiksen, daran denkt keiner. Bisweilen werden nicht einmal Selbstverständlichkeiten beachtet. Zum Beispiel, dass keine spitzen Schrauben aus dem Holz herausragen sollten, weil sich die Trage-Hanseln daran sowohl Kleidungsstücke als auch Körperteile aufschlitzen könnten.
Gut, in meinem Fall war es gerade zum Glück nur ein Kleidungsstück. Andererseits, was heißt hier »nur«? Es war meine Hose. Ein Kleidungsstück, das einem Körperteil gleichkommt. Frauen verstehen das nicht, aber jeder Mann hat seine Hose. Die einzige, die wirklich sitzt, die einzige, in der er sich wirklich wohl fühlt. Die Hose trägt er jeden Tag, und wenn sie mal gewaschen werden muss, dann bleibt er oft so lange zu Hause, bis sie wieder trocken ist. Und wenn schließlich der Tag gekommen ist, an dem selbst er nicht mehr übersehen kann, dass seine Hose nur noch lose von ein paar Fäden zusammengehalten wird, dann beginnt eine lange, peinvolle, meist von zahlreichen Fehlschlägen geprägte Suche nach der neuen Hose.
Meine Hose war aber noch weit davon entfernt. Wir hätten noch viele Abenteuer gemeinsam bestehen können, hätte ihr nicht soeben diese dämliche, völlig unprofessionell geschraubte Kunstkistenschraube den Garaus gemacht. Ich muss mich erst mal setzen. Der Tag ist gelaufen.
Mädchen im Getriebe
Der Tag ist doch nicht gelaufen. Das merke ich sofort, als ich nach der Arbeit in unsere Küche komme. Natürlich hängt wieder die übliche Versammlung aus Freunden, Freunden der Freunde und Freunden der Freunde der Freunde herum, die alle diesen Raum als dauergeöffnete Kneipe betrachten, und manchmal fragen wir uns schon, ob das mit der Zapfanlage ein Segen oder ein Fluch ist. Aber zwischen den ganzen feisten Sackgesichtern strahlt Amelie heraus, und Francesco, der seit unserer finalen Wer-wird-der-neue-Mitbewohner-Entscheidungssitzung verschollen war, fläzt sich endlich wieder auf seinem
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