Kalte Fluten
würde, wirklich der Rumpf einer Jacht? Ihre letzte Erinnerung das geisteskranke Geschwafel von Daniel?
***
»Was hast du vor?«, fragte Randolf.
»Ich ramme die Jacht. Du springst auf das Schiff und schnappst ihn dir, ich hole Wiebke.«
»Ist ein Scheiß-Plan, aber ich habe keinen besseren«, sagte Randolf lakonisch.
Sekunden später bohrte Günter die Spitze der Motorjacht in das Segelschiff. Sie blieb förmlich in der Konstruktion der Bavaria stecken. Er griff sich ein Messer, nahm es zwischen die Zähne, sprang ins Wasser und tauchte unter. Da sah er sie, etwa drei Meter unter ihm sank sie langsam, aber beständig nach unten. Es strengte ihn unglaublich an, noch tiefer zu tauchen. Er hatte Angst, es nicht zu schaffen. Er musste sich übermenschlich anstrengen. Doch er wollte sie. Er wollte sie retten. Er wollte sie haben.
Schließlich schaffte er es, den schon leblosen Körper zu fassen zu kriegen. Er nahm das Messer und durchtrennte die Seile der Ballastsäcke und die Kabelbinder. Dann stieg er mit ihr auf.
Prustend erreichte er die Wasseroberfläche, wo er sich hektisch umschaute. Ein Boot der Wasserschutzpolizei hatte sich genähert. Der Bootsführer entdeckte sie und nahm sie auf. Günter begann sofort mit Wiederbelebungsmaßnahmen.
»Komm schon, Wiebke, du darfst jetzt nicht aufgeben!« Wieder und wieder massierte er ihr Herz und pumpte Luft in ihre Lungen. Immer wieder.
Plötzlich hustete sie, spuckte Wasser und würgte. Dann blickte sie sich um. Es dauerte etwas, bis sie die Situation begriffen hatte. Erleichtert stellte sie fest, dass sie noch lebte.
Sie sank erschöpft zurück, schloss die Augen und flüsterte heiser: »Günter. Ich liebe dich.«
»Ich dich auch, Wiebke.« Er hatte Tränen in den Augen. »Ich hatte dir versprochen, dir einmal das Leben zu retten. Ich halte meine Versprechen!«
»Daniel hat alle umgebracht. Er war es«, sagte sie unter Weinkrämpfen. »Und Thomas hat alles gewusst.«
»Ist ja gut«, sagte Günter. »Es wird alles gut.«
Epilog
»Ich freue mich, Herr Kollege, dass es Ihnen wieder besser geht.« Chefarzt Prof. Dr. Kurt Schwindhelm schüttelte seinem Kollegen, Oberarzt Dr. Thomas Schulte, herzlich die Hand.
»Danke, Chef«, sagte Thomas. »Was war denn los?«
»Sie hatten einen Nervenzusammenbruch. Kein Wunder, nach dem, was passiert war.«
»Ja, das kann man wohl sagen. Der eigene Bruder ist ein Serienmörder. Ich habe es gewusst, habe es aber nicht geschafft, ihn zu verraten. Das hat mich meine Ehe gekostet. War wohl alles etwas zu viel für mich.«
»Es wäre für jeden zu viel. Allerdings – wenn Sie gestatten: Dass Ihre Frau Sie verlassen hat, kann ich nachvollziehen. Warum haben Sie ihr nichts gesagt, sondern sie im Gegenteil in die falsche Richtung ermitteln lassen?«
»Haben Sie Geschwister, Herr Kollege?«
»Ja, einen Bruder und zwei Schwestern. Warum?«
»Dann wissen Sie es doch.«
»Was weiß ich?«
»Blut ist dicker als Wasser.«
Schwindhelm putzte nachdenklich und umständlich seine Brille. Er setzte sie wieder auf sein fein geschnittenes, aber durch viele tiefe Sorgenfalten gezeichnetes Gesicht. Er konnte seine dreiundsechzig Jahre nicht verleugnen. In seiner Physiognomie hatten sich die Spuren der täglichen Beschäftigung mit der Abnormalität tief eingegraben.
»Wir schätzen Ihre Arbeit hier außerordentlich, Herr Schulte«, sagte er nach einer längeren Pause. »Und wir würden sie gern fortsetzen. Das setzt aber voraus, dass Sie mir die Wahrheit über Ihren Bruder, soweit Sie sie kennen natürlich, erzählen. Sie müssen verstehen, dass ich wissen muss, ob –«
»Sie brauchen gar nicht weiter um den heißen Brei herumzureden, Herr Professor. Ich werde Ihnen die Wahrheit erzählen. Ich bin sicher, dass Sie danach sagen werden, dass Sie an meiner Stelle genauso gehandelt hätten.«
Schwindhelm lehnte sich entspannt zurück. »Dann schießen Sie mal los. Kaffee und Wasser stehen vor Ihnen. Sie bedienen sich bitte.«
»Es war um die Zeit, als ich gerade Wiebke kennengelernt hatte. Sie war die Frau, die ich haben wollte. Die Frau, bei der ich meinte, glücklich werden zu können. Ich war sicher, wir würden ein perfektes Paar abgeben. Aber da waren zwei Dinge, die irgendwie unausräumbar zwischen uns standen.«
»Was waren das für Dinge?«
»Zum einen waren da unsere jeweiligen Berufe. Sie litt sehr darunter, dass ich – Sie, Professor, wissen, wovon ich rede – sehr oft lange, sehr oft auch in der Nacht, an
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