Kalte Fluten
kleine Wiebke!«, sagte Thomas. Er wirkte glücklich. Er küsste sie. »Ich suche ab morgen Praxen, die zum Verkauf stehen. Hast du eine bestimmte Vorliebe, was die Region betrifft?«
»Nein, nur möglichst weit weg von hier.«
Wiebke, ich bin so stolz auf dich.
Danke, Mama. Ich auf mich auch.
5
»Freust du dich darüber?«, fragte er und begann, sich anzuziehen. »Sei aber ehrlich!«
»Thomas«, sagte Wiebke und zog hörbar die Luft ein. »Man sollte als Paar immer ehrlich zueinander sein. Und deshalb sage ich dir, dass ich nicht wirklich böse bin, dass dein Bruder endgültig auswandern will. Wo wird er jetzt leben?«
»Neuseeland. Er hat dort ein Arbeitsvisum bekommen.«
»Ich hoffe nur, dass du ihn nicht allzu sehr vermisst. Das hoffe ich wirklich.«
»Wenn ich ein- oder zweimal im Jahr zu ihm fliegen darf?«
»Natürlich darfst du das«, sagte sie lächelnd. »Und jetzt ab mit dir, damit ihr die Ostsee unsicher machen könnt.«
»Was machst du in der Zwischenzeit?«
»Ich werde die diversen Angebote der Arztpraxen prüfen. Manche haben ja utopische Preisvorstellungen, andere sind völlig runtergewirtschaftet. Ich muss erst einmal grob sondieren.«
»Viel Spaß dabei und bis heute Abend.«
Die Tür flog zu, und sie hörte seine Schritte im Treppenhaus. Ihr Blick fiel auf seine Brieftasche. Er hatte sie vergessen. Sie öffnete die Tür und rief laut: »Thomas!« Doch er war schon verschwunden.
Sie wollte die Brieftasche einfach auf die Anrichte in der Diele legen, konnte sich jedoch nicht beherrschen. Aber sie fand nichts Aufregendes. Kreditkarten, die Zulassung des Autos, den Führerschein. Die Codekarte für das Krankenhaus. Eben das, was in eine Brieftasche eines Arztes gehörte.
Doch dann fiel ihr ein Zettel in die Hand. Ein unscheinbarer, kleiner Notizzettel mit dem Werbeaufdruck einer Pharma-Firma. Darauf fand sie einen Code: »24wmy25lav«.
Was bedeutete diese Buchstaben-Zahlen-Folge? Sie überlegte. Dann hatte sie eine Idee. Das könnte der Schlüssel zum Allerheiligsten sein. Der Code, mit dem sie in seinen PC käme. Ein Versuch wäre es doch wert.
Wiebke, der Mann vertraut dir. Tu das nicht!
Doch Mama, das tue ich jetzt.
Quälend langsam bootete der Rechner. Endlich verlangte der Bildschirm die Eingabe. Sie zitterte beim Tippen. Nervös drückte sie die Enter-Taste. Tatsächlich. Blau erschien die Oberfläche. Sie war drin.
***
Wer um alles in der Welt will denn schon so früh am Morgen was von mir?, dachte Günter, als er sich aus dem Bett quälte. Er war gestern im »Ceasar’s Palace« gewesen und erst um vier Uhr morgens nach Hause gekommen. Todmüde blickte er durch den Türspion. Er öffnete sofort.
»Randolf«, sagte er. »Hast du senile Bettflucht? Aber komm rein. Kaffee?«
»Gerne.«
Günter schaltete seinen Kaffeevollautomaten ein. Lautstark mahlte kurz darauf die Maschine Bohnen zu Mehl und produzierte Espresso mit einer feinen Crema.
»Du weißt, dass ich diesen Bier-nur-ausnahmsweise-Trinker nicht leiden kann«, begann Randolf.
»Du meinst Thomas, Wiebkes Mann.«
»Genau. Dieser Turnbeutel-Vergesser ist mir bekanntlich von Anfang an auf den Sack gegangen. Mit der Zeit fielen mir in seinen Erzählungen ein paar Ungereimtheiten auf. Und deshalb habe ich ihn schließlich gecheckt.«
»Du hast was?«
»Ich habe einen alten Kumpel aktiviert. Wir haben ihn nach guter alter Manier durchleuchtet.«
»Das macht man aber nicht.«
»Wenn es sich lohnt, schon. Lies das.«
Randolf übergab Günter ein mehrseitiges Fax. »Die Tinte ist noch feucht. Ich bin so schnell wie möglich zu dir.«
Günter las mit bleichem Gesicht, was Randolfs Agentenkollege im Ruhestand herausgefunden hatte. Mit todernster Miene legte er die fünf Seiten auf den Tisch.
»Dein Kumpel ist zuverlässig?«
»Ein Supermann. War unser Spezialist für Lebenslaufanalysen. Wenn einer Dreck am Stecken hatte, er hat ihn gefunden. Garantiert.«
»Wenn es also stimmt, was dort über Thomas und seinen Bruder Daniel steht, dann …«
»Dann müssen wir Wiebke informieren. Ich dachte, es ist besser, wenn wir beide ihr das beibringen.«
»Ich ziehe mir nur rasch was über«, sagte Günter, nahm die Sachen von gestern und steuerte auf die Wohnungstür zu. Er zog sich im Gehen an.
»Warum hast du ihn nicht schon früher überprüft? Ich meine, vor der Hochzeit«, fragte Günter auf dem Weg nach unten.
»Weil ich vor meiner Nichte nicht als schwarzsehender, unter senilem Verfolgungswahn leidender
Weitere Kostenlose Bücher