Kalte Fluten
wissen.
»Dann lasse ich das Paket abholen.«
»Du lässt abholen, soso. Du bist aber verdammt vorsichtig.«
»Denk daran, wenn ich auffliege, sind wir beide dran.«
»Okay, okay! Die Kohle wandert im braunen Päckchen um Punkt fünfzehn Uhr in diesen dusseligen Mülleimer. Irgendwelche Wünsche zur Stückelung?«
»Möglichst kleine Scheine. Zehner, Zwanziger, maximal Fünfziger. Ist zwar unhandlich, kann aber nicht zurückverfolgt werden. Du verstehst, dass meine Kollegen diesbezüglich etwas mimosenhaft reagieren würden.«
»Das kenne ich.« Kleinert lächelte. »Vor zwei Jahren haben wir die Beamten der Stadtverwaltung zu einer Weihnachtsfeier eingeladen. Alle Frauen kriegten einen Blumenstrauß, in den wir kunstvoll Geldscheine eingearbeitet hatten. War eine Höllenarbeit, die Party aber ein voller Erfolg.«
»Dann weißt du ja, worauf es ankommt. Wir beide treffen uns nicht mehr. Frühestens in zehn Tagen meldest du Konkurs an.«
Kleinert überlegte nur kurz. »Auf ein paar Tage mehr oder weniger kommt es nun auch nicht mehr an. Also: einverstanden. Weißt du, ich habe immer gewusst, dass ich mich auf dich verlassen kann.«
Günter deutete ein Nicken an. »Ich bin in Eile, Johannes. Wir haben uns verstanden: keine Anrufe, keine Faxe, keine Mails. Gar nichts. Und ab sofort sind wir beide per Sie.«
»Natürlich.«
Günter gab ihm die Hand, was ihn erneut eine unglaubliche Überwindung kostete. »Einen schönen Abend, Johannes.«
»Danke, dir auch.«
Er verließ das Gebäude. Er hatte einen Parkplatz direkt gegenüber der Kirche gefunden. Es waren nur wenige Meter. Trotzdem rannte er. Ein panischer Fluchtreflex hatte ihn ergriffen.
Wiebke, hoffentlich geht das gut.
Johannes Kleinert warf die Bierdosen verächtlich in den Mülleimer, schob die Holzverkleidung zur Seite und nahm sich eine Flasche Krimsekt aus dem Kühlschrank. Er entkorkte sie und ging mit ihr hinter die spanische Wand, die das Waschbecken und einen Wandspiegel vom Rest des Raumes abschirmte.
Er betrachtete sich selbstverliebt, prostete sich zu und sagte: »Nastrovje, du Teufelskerl.« Dann trank er den süßen Sekt in großen, gierigen Schlucken.
***
Wiebke hatte von unterwegs ihren Onkel Randolf angerufen und ihn gefragt, ob sie vorbeikommen könne. Erwartungsgemäß hatte er sich sehr gefreut. Er war der knapp ein Jahr jüngere Bruder ihres verstorbenen Vaters. Nachdem dieser 1974 bei einem Betriebsunfall ums Leben gekommen war, hatte sich Randolf um Mama und sie gekümmert. Wiebke hatte außer ihm keine weiteren Verwandten.
Während der ganzen Fahrt überlegte sie, wie sie ihn dazu überreden könnte, einem Wessi zu helfen. Er hasste den ehemaligen Klassenfeind bis heute. Je älter er wurde, desto sturer schien er in dieser Hinsicht zu werden.
Randolf Sollich war zu DDR-Zeiten nämlich Direktor eines VEB, eines Volkseigenen Betriebes, gewesen. Eine Position, die der eines Geschäftsführers im kapitalistischen Westen entsprach. Er hatte Privilegien, die er mit ihr und ihrer Mutter redlich teilte. Schließlich war er unverheiratet. Wegen der Leitung des Betriebes hatte Randolf sogar die Möglichkeit, regelmäßig in den Westen zu reisen. Immerhin nahm der Klassenfeind ihm fast die gesamte Produktion des Betriebes ab. Das war besser, als mit den anderen Comecon-Staaten Geschäfte zu machen. Die waren nämlich mindestens genauso pleite wie die DDR, und selbst ein überzeugter Sozialist wie Randolf Sollich nahm deshalb lieber die harte Westwährung, die Karstadt, Neckermann und andere für die Fahrradersatzteile, die sein Betrieb herstellte, bezahlten, als über einen unglaublich bürokratischen Weg den Wein, den die Ungarn für Fahrraddynamos lieferten, irgendwie gegen dringend benötigte Kupferdrähte zu tauschen.
Zunächst liebte und bewunderte sie ihn bedingungslos, aber mit zunehmendem Alter hatte Wiebke die Risse in der glänzenden Fassade des treu sorgenden Onkels wahrgenommen.
Wieso ging es ihm und damit ihnen so viel besser als fast allen anderen, die unter dem DDR-Regime litten? Wiebke ahnte, dass Randolf dafür einen hohen Preis zahlen musste. Warum ließen sie ihn in den Westen reisen? Alle anderen, die sie kannte und die das durften, waren ziemliche Arschlöcher. Gehörte er auch zu den Bonzen, die keinen Grund hatten, »rüberzumachen«, wie man damals so schön sagte?
Und warum er unverheiratet geblieben war, war und blieb ein streng gehütetes Familiengeheimnis. Er hatte über Jahre immer wieder diese
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