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Kalte Fluten

Kalte Fluten

Titel: Kalte Fluten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Westerhoff
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blöden Witz über den Scheiß-Staat gerissen hatten, in dem sie lebten. Ich habe deine Akte nicht, wie ich dir erzählt habe, im Archiv der Stasi einfach verbrannt. Ich habe sie aus dem Stasi-Bunker geschmuggelt, gelesen und schließlich bei mir zu Hause zusammen mit der schwefelhaltigen Braunkohle in den Rostocker Himmel geblasen.«
    »Wie hast du sie aus dem Archiv herausgeschmuggelt?«, fragte Randolf unsicher. Solche Archive waren bekanntlich keine öffentlichen Bibliotheken, aus denen man mal ein Buch mitgehen lassen konnte.
    »Ich habe mich vom Wachleutnant ficken lassen«, schrie sie unter Tränen. »Ich habe meinen nackten Arsch auf die billigen Leimholzplatten unserer volkseigenen Schreibtische gesetzt und mich von diesem widerlichen Bonzen durchvögeln lassen. Dabei hatte ich Glück, dass ich mir keine Holzsplinte in den Hintern gezogen habe. So, jetzt weißt du es!«
    Randolf war in sich zusammengesunken. Jetzt stand er auf und nahm Wiebke in den Arm. »Das hast du getan?«, fragte er.
    »Ja«, schluchzte sie.
    »Für mich?«
    »Ja, für dich.«
    »Und du weißt alles über mich?«
    »Alles. Seit zwanzig Jahren.«
    »Jede Schweinerei?«
    »Jedenfalls alle, die deine netten Kollegen zusammengetragen hatten. Es waren mehr als genug. Und jetzt hör bloß auf mit deiner verklärten Ostalgie und hilf mir!«
    »Was ist denn an diesem W…, also an diesem Günter dran, dass du Kopf und Kragen riskierst, um ihm seinen Hintern zu retten?«
    »Er würde das auch für mich tun.«
    »Du liebst ihn also.«
    »Nein, ich liebe Thomas Schulte und werde ihn heiraten. Aber man kann doch auch einen Freund haben, ohne mit ihm zu schlafen, oder?«
    »Sicher kann man das«, sagte Randolf. Der Ton, in dem er es aussprach, nährte bei ihr den Verdacht, dass das letzte Wort in dieser Angelegenheit noch nicht gesprochen war. Dann endlich sprach er den erlösenden Satz: »Ich mache das, was du von mir verlangst.«
    »Danke, Onkel.«
    »Nein, sag nicht Danke. Du hast was für mich getan, was du nicht tun wolltest. Also ist es nur fair, dass ich etwas für dich tue, was ich nicht tun will. Das ist alles.« Randolfs Miene hellte sich auf. »Weißt du, was das Witzige dabei ist?«
    »Was?«, fragte Wiebke, die sich mühsam wieder beruhigte.
    »Dass ausgerechnet ein Apparatschik einem Wessi den Arsch retten soll. Das verschafft mir eine gewisse Befriedigung.«
    »Onkel!«
    »Ist ja gut!«
    Nachdenklich nahm Randolf einen Schluck Wein. Er fixierte Wiebke und fragte: »Sag mal. Wenn du alles weißt, wie du sagst – und ich glaube dir das –, warum verachtest du mich nicht?«
    »Das habe ich in der Tat eine Zeit lang getan«, sagte sie.
    »Und warum jetzt nicht mehr?«
    »Weil nicht jeder die Kraft hat, sich aufzulehnen. Und selbst die großen Widerstandskämpfer haben lange mitgespielt, um in die Position zu gelangen, Widerstand effektiv leisten zu können.«
    »Hmmm«, brummte Randolf.
    »Nehmen wir mal einen anderen Unrechtsstaat auf deutschem Boden.«
    »Jetzt sag nicht Nazi-Deutschland! Das war etwas ganz anderes.«
    »Hör doch erst mal zu! Jedes Jahr am 20. Juli feiern wir, dass ein gewisser von Stauffenberg ein Attentat auf Hitler versucht hat.«
    »Und was hat das mit mir zu tun?«
    »Wenn der nicht lange genug, ob aus Überzeugung oder nicht, ›Heil Hitler‹ gebrüllt hätte, hätte Hitler ihn wohl kaum so nahe an sich herangelassen. Aber irgendwann hat er gewusst, dass das System scheiße war und man etwas dagegen tun muss.«
    »Ich habe diese Erkenntnis nie gehabt.«
    »Nicht jeder ist zum Helden geboren, Onkelchen.«
    Er nahm sie in den Arm. Er drückte sie. Dann flüsterte er ihr ins Ohr: »Danke. Auch für dein Verständnis. Vielleicht war ich einfach nur schwach.«
    »Ich liebe schwache Menschen. Und ich liebe dich. Aber jetzt ist Zahltag!«
    »Wenn ich gewusst hätte, was heute auf mich zukommt, wäre ich wohl besser wieder einmal nach Bulgarien gefahren.«
    »Nein, es ist gut, dass es jetzt raus ist.«
    »Auch wieder wahr.«
    Sie saßen eine ganze Weile schweigend beisammen.
    »Sag mal, Onkel, warum hast du nie geheiratet?« Wiebke fand, dass nun auch dieses Familiengeheimnis gelüftet werden konnte.
    »Stand das nicht in meiner Akte?«
    »Nein.«
    Randolf trank sein Glas leer. Sie bemerkte seine Unsicherheit.
    »Ich habe nie die Richtige gefunden«, sagte er ausweichend.
    »Was ist mit Christine, die über Jahre immer dabei war, wenn wir was unternahmen?«
    Randolf schluckte schwer. »Ich bin schwul, Wiebke«,

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