Kalte Fluten
doch beschissen, wie bei allen anderen Prüfungen auch, oder?«
»Entgegen anderslautenden Unterstellungen handelt es sich bei Juristen auch um die Gattung Mensch.«
»Das kann man manchmal kaum glauben«, sagte Wiebke augenzwinkernd.
»Was willst du von mir?«, fragte Günter genervt.
»Die offizielle Version ist wie folgt: Du gehst zum General und erzählst ihm, dass dich der Kleinert unter Druck setzt. Weil er pleitegeht, nicht in den Knast will und so weiter.«
»Gut, und dann?«
»Dann wird dich der General genauso wie ich fragen, womit er dich unter Druck setzen will. Daraufhin erzählst du ihm eine Geschichte von irgendwelchen Spickzetteln, die Kleinert mal für dich produziert hat, weil er ja so ein juristisches Genie war.«
»Aber die Beweise …«, widersprach Günter.
»Schließlich setzt du noch einen drauf und eröffnest dem General, dass dich der Kleinert nur unter Druck setzt, weil er dich bestechen will, und dass du ihn deswegen drankriegen willst. Du überlegst, so sagst du ihm, zum Schein auf die Bestechung einzugehen.«
»Selbst wenn ich dem General ein minder schweres Vergehen meinerseits verkaufen kann. Es waren keine Spickzettel. In Kleinerts Safe liegen immer noch die Klausuren.«
»Die werden zu dem Zeitpunkt, wenn die Falle zuschnappt, aber nicht mehr dort sein.«
Günter schwieg einen Moment. Wie wollte sie das anstellen? Aber angenommen, es gelänge. Er könnte ohne Schaden aus der Sache rauskommen. »Der General wird wissen wollen, warum wir ihm die Falle stellen.«
»Das ist doch klar: Bis dato steht Aussage gegen Aussage. Ein Beweis vor Gericht wird schwer zu führen sein. Aber wenn Kleinert in die Falle tappt, hast du alles, was du brauchst.«
Ich liebe dich, wollte Günter sagen. Es kamen aber nur die Worte »Eine geniale Idee« über seine Lippen. Dann fragte er: »Wie willst du die Klausuren aus dem Safe verschwinden lassen?«
»Es ist besser, wenn du die Details nicht genau kennst.«
Günter fragte tatsächlich nicht weiter nach. Es war sonnenklar, dass das, was Wiebke plante, mit dem geltenden Recht nicht in Einklang zu bringen war. Vorsichtig formuliert. Die Geschichte wiederholte sich. Es war wie damals in Köln. Sein Leben hing davon ab, ob er bereit war, eine Straftat zu begehen. Das war er. Was blieb ihm auch anderes übrig? Aber warum tat Wiebke das? Sie setzte für ihn ihren Beruf aufs Spiel. Jetzt, wo sie kurz davor stand, durch die Eheschließung mit einem renommierten Arzt endgültig die soziale Leiter hinaufzufallen. Sollte er sie fragen? Oder sollte er einfach das schöne Gefühl genießen, das ihn zu übermannen drohte?
»Warum tust du das für mich?«, fragte er dann doch.
Sie stand auf, kam auf ihn zu und spitzte ihre Lippen. Sanft berührten sie die seinen. Ein unerklärliches Gefühl der Sicherheit und des Glücks durchzog seinen Körper.
»Ich heirate Thomas. Weil es richtig ist. Und weil ich ihn liebe. Aber ich mag dich wie sonst kaum einen Menschen.«
Wortlos stand Günter auf, ließ sie sitzen und verließ die Wohnung.
Er weinte. Er weinte gleichzeitig wegen des unbeschreiblichen Glücksgefühls, der beste Freund dieser Frau zu sein, und der ihn zur Verzweiflung treibenden Enttäuschung, sie niemals haben zu können.
***
Am nächsten Morgen war es ausnahmsweise Wiebke, die übernächtigt und mit roten Augen im Büro saß, und nicht Wolfgang. Gestern war schließlich auch viel passiert. Sie würde bald heiraten. Günters Schicksal lag in ihrer Hand, und vor ihr saß Wolfgang, auf den unausgesprochen ein schrecklicher Verdacht fiel.
Sollte er Lydia gerächt haben, indem er den Mann, der für den Tod seines Sonnenscheins verantwortlich war, lebendig begraben hatte? Sollte er es gewesen sein, der ihm sogar noch Licht für die letzten Stunden des Lebens spendiert und ihm über ein Babyfon vermutlich eindringliche Vorwürfe gemacht und über Schuld und Sühne philosophiert hatte?
Ausgerechnet Wolfgang, der Mann, von dem seine eigene Frau am Grab gesagt hatte, er sei ein »feiger Dampfplauderer«?
Aber wenn Menschen den Sinn des Lebens verlieren, werden sie oft zum Tier. Wiebke erlebte das in ihrem Beruf immer wieder.
Als das Telefon klingelte, nahm sie den Hörer. »Mordkommission eins, Kriminalkommissarin Sollich? Ah, hallo, Doc. – Es ist Streicher«, zischte sie Wolfgang zu.
Dann wurde sie einsilbig. »Danke«, hörte Wolfgang sie sagen, gefolgt von »Wer weiß noch davon?« und schließlich: »Ich rufe dich an.«
Wiebke legte auf
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