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Kalte Fluten

Kalte Fluten

Titel: Kalte Fluten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Westerhoff
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Christine dabeigehabt. Doch warum hatte er sie nie geheiratet?
    Nach alldem hatte Wiebke ihn nie gefragt. Sich nie zu fragen getraut.
    In den stürmischen Tagen im November 1989, als in einem historischen Orkan ein ganzer Staat vom eigenen Volke dem Untergang geweiht wurde, in ebenjenen Tagen hatte Wiebke ihrem Onkel das Leben gerettet. Sie hatte ihm nie die Begleitumstände geschildert. Das, fand sie, war nicht nötig.
    »Das vergesse ich dir nie«, hatte er damals gesagt. »Ich hoffe, ich kann es wiedergutmachen. Irgendwann.«
    Heute konnte er. Aber er würde nicht wollen. Das wusste sie. Es würde ein hartes Stück Arbeit werden, ihn zu überzeugen.
    Randolf schnitt gerade die Rosen in seiner inzwischen zu einem stattlichen Wohnhaus umgebauten ehemaligen Datsche. Sein Altersruhesitz. Seit acht Jahren genoss er die großzügige Altersrente, die ihm der früher so verhasste kapitalistische Westen gewährte.
    »Schön, dass du so mitten in der Woche vorbeischaust«, sagte Randolf und umarmte Wiebke zur Begrüßung. »Komm doch rein.«
    Wiebke folgte ihm in das Haus, dessen Wohnfläche etwa einer durchschnittlich großen Drei-Zimmer-Wohnung entsprach, jedoch auf einem riesigen, fast tausendfünfhundert Quadratmeter umfassenden Grundstück lag und deswegen irgendwie herrschaftlich wirkte. Oder kam es Wiebke nur so vor?
    »Was gibt es denn Dringendes?«, fragte Randolf teilnahmsvoll, nachdem sie sich gesetzt hatten, und öffnete einen Wein aus der Dresdner Gegend.
    »Ich muss den Gefallen von 1989, den du mir versprochen hast, einlösen«, sagte sie ohne Umschweife, als sie im Haus waren.
    »So dramatisch?«
    »Ja, so dramatisch. Ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden soll.«
    »Worum geht es denn?« Randolf lehnte sich zurück und spitzte die Ohren.
    Geradeheraus erzählte ihm Wiebke von Günter, seinem Problem und ihrem Plan. Er ließ sie zu Ende reden. Doch ihre Bitte lehnte er am Ende kategorisch ab.
    »Ausgeschlossen«, sagte er. »Ich helfe keinem Wessi. Du kennst doch den Unterschied zwischen einem Kuhschwanz und dem Schlips eines Wessis?«
    »Ach, lass doch diese dämlichen Witze, die sind doch längst passé.«
    »Der Kuhschwanz bedeckt das Arschloch ganz«, beendete Randolf ungerührt seinen Scherz.
    »Onkelchen, bitte«, sagte Wiebke zärtlich. Sie blickte ihn mit großen, flehenden Augen an. Doch was sonst immer geholfen hatte, verpuffte hier wirkungslos.
    »Nein, nein und nochmals nein!«
    So würde es nicht funktionieren.
    Wiebke änderte ihre Strategie. »Was wäre wohl aus dir geworden, wenn ich am 10. November 1989 nicht so blitzschnell geschaltet hätte?«, fragte sie und schaute ihren Onkel aus nun gefährlich blitzenden Augen an.
    Randolf wurde nachdenklich. Er hatte damals die Situation wie viele der Mächtigen falsch eingeschätzt. Er war in den Urlaub gefahren. Nach Bulgarien, wie so oft. Die Wucht der Ereignisse hatte ihn genauso überrascht wie so manchen seiner Weggenossen. Und sie hätte ihn mit ihnen hinweggefegt.
    »Gevierteilt hätten sie dich. Deine Rente wäre beim Teufel. Du wärst die Zielscheibe des Hasses geworden. Und dein Scheiß-Staat hätte nichts mehr für dich tun können.«
    »Das war kein Scheiß-Staat. Das war unser Arbeiter- und Bauernstaat. Alle Produktionsmittel waren in der Hand des Volkes. Nicht in der Hand einiger weniger Privilegierter.«
    »Das Volk scheißt aber darauf, dass es stolzer Besitzer der Produktionsmittel ist, wenn es nicht genug zu fressen gibt und in den Wohnungen der Schimmel grassiert.«
    »Wiebke!«, rief er sie zur Räson. Doch sie raste vor Wut über seine Engstirnigkeit.
    »Nicht Wiebke!«, brüllte sie. »Du trauerst der DDR doch nur hinterher, weil du einer der wenigen Bonzen warst, die vom System profitierten. Du hast als einer von wenigen was verloren. Und bist deswegen verbittert. Das kann ich vielleicht sogar verstehen. Aber mir haben diese von dir so verhassten Wessis geholfen. Als ich wie ein Neandertaler mit unserer Urwaldtechnik auf einmal Verbrecher jagen musste, die schon in der Neuzeit angekommen waren. Mir hat ein Wessi geholfen, der nicht die Fehler nach oben gemeldet hat. Der nicht Verräter war.«
    Der letzte Satz ließ ihn erblassen. »Woher weißt du, dass ich Verräter war?«, fragte er.
    »Wenigstens gibst du es jetzt zu. Ich hab alles gelesen. Über alle, die du damals verraten hast. Alle diese armen Schweine, die dank deiner Denunziation für Jahre nach Bautzen oder wer weiß wohin mussten, nur weil sie mal einen

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