Kalte Fluten
und faltete ihre Hände. Sie sah Wolfgang an, der mit fragendem Blick in seinem Sessel saß. Sie schluckte.
»Es ist, wie ich vermutet habe. Der Tote im Grab am Brooksee war Fritjof Hansen. Irrtum ausgeschlossen.«
»Und jetzt denkst du wieder, ich hätte … Ich sehe es dir ja förmlich an.«
»Ich denke gar nichts. Viel schlimmer ist ohnehin die Frage, was Zielkow denkt. Unser verehrter Chef ist nämlich bereits informiert. Ich befürchte –«
Weiter kam sie nicht. Das Telefon klingelte erneut, und Zielkow beorderte sie beide in sein Büro.
Einem Richter nicht unähnlich thronte Eberhard Zielkow auf seinem Chefsessel. Seine beiden Untergebenen standen vor dem Schreibtisch. Er hatte ihnen nicht einmal einen Platz angeboten.
»Ich nehme an, Sie kennen das Ergebnis von Dr. Streichers Untersuchungen?«, kam er sichtlich nervös, aber ohne Umschweife zur Sache.
Beide nickten.
»Und Sie haben bisher keine Ahnung, wer der Täter sein könnte?«
»Nun«, wandte Wiebke vorsichtig ein. »Wir haben den Verdacht, dass Christof Lüerßen –«
»Verdacht, Verdacht«, bellte Zielkow. »Einen Beweis brauche ich! Dieser Lüerßen ist etwa zur selben Zeit verschwunden wie Fritjof Hansen. Mehr als die vage These, dass er ihn umgebracht haben könnte, weil die beiden Streit hatten, haben wir nicht. Wissen Sie, was die Presse gleich mit mir macht?«
»Nein, Chef, das wissen wir nicht«, erwiderte Wiebke trotzig. Sie hatte es noch nie gemocht, vorgeführt zu werden.
»Sie werden die Geschichte des Hauptkommissars, der dem Toten in einer Vernehmung lautstark Rache geschworen hat, genüsslich vor mir ausbreiten. Mit allen Details. Wir können keinen genauen Todeszeitpunkt feststellen, also haben Sie, Herr Franke, ein Motiv, aber kein Alibi. Und wer war noch mal Hansens Verteidiger?«
»Dr. Laufmann«, sagte Wiebke tonlos. Zielkows Frage war rhetorisch, aber sie traf den Kern.
»Dann sollten Sie wissen, wie gern dieser Winkeladvokat den Presseschmierfinken Interviews gibt. Ich seh schon die Schlagzeile: ›Kommissar ein Mörder?‹ Kleines Fragezeichen. ›Der Anwalt des Opfers packt aus!‹ Großes Ausrufezeichen. «
Wolfgang verspürte einen unbezwingbaren Drang nach einem Schluck Alkohol. Egal was, Hauptsache Alkohol.
»Es steht wohl außer Frage, dass Sie, Kollege Franke, bis zur endgültigen Klärung des Falles im Dienst nicht mehr tragbar sind.«
»Chef«, sagte Wiebke. »Das kommt einer Vorverurteilung gleich. Sie vernichten –«
»Sie wollen mir doch wohl nicht in meine Personalentscheidungen reinreden? Die Sache ist außerdem viel zu brisant. Mir bleibt gar nichts anderes übrig.«
Wiebke schwieg. Sie lief vor Wut rot an. Aber sie schwieg. Wolfgang schien seine Suspendierung gelassen hinzunehmen. Er legte wortlos seinen Dienstausweis und seine neue Waffe auf den Schreibtisch. Dann verließ er das Büro. Ihr war klar, dass er sich jetzt wieder einmal bis zur Besinnungslosigkeit besaufen würde. Und wieder hatte er einen guten Grund.
»Frau Sollich«, sagte Zielkow, als sie sich ebenfalls zum Gehen wandte. »Einen Augenblick noch, bitte.«
»Ja, Chef?«
»Finden Sie den wahren Täter. Finden Sie ihn schnell. Herr Franke geht sonst noch zugrunde.«
»Sie hätten einen nicht unerheblichen Anteil daran«, sagte sie schnippisch. » Ich tue, was ich kann, darauf können Sie sich verlassen.« Dann drehte sie sich um und verließ, ohne sich noch einmal umzudrehen oder gar etwas zu sagen, das Büro.
Zielkow verzieh ihr die Beleidigung.
Nachdenklich ging Wiebke zurück in ihr Amtszimmer. Die Existenz zweier Menschen lastete auf ihren Schultern. Auf sie kam es an, ob Wolfgang wieder Polizist sein würde. Und es hing von ihr ab, ob Günter weiter ein geachteter Staatsanwalt bliebe oder mit Schimpf und Schande aus der Behörde gejagt würde.
Sie meinte, die Last wie einen Felsen auf ihren Schultern zu spüren. Sie hatte zu viele Probleme zu lösen und zu wenig Zeit. Eigentlich müsste sie jetzt im Mordfall Hansen recherchieren. Zeugen vernehmen, Akten lesen, Spuren suchen.
Andererseits hatte sie Günter versprochen, sein Leben zu retten. Sie musste sich entscheiden, wer jetzt Vorrang hatte. Wolfgang oder Günter. Der Dienst oder die Liebe. Hatte sie wirklich gerade an Liebe gedacht?
Wenig später waren Wiebke und Günter in gleicher Sache unterwegs. Beide hatten das Ziel, Existenz und Ruf des amtierenden Rostocker Oberstaatsanwalts Günter Menn zu retten.
Günter selbst fuhr zu seinem Peiniger, um
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