Kalte Fluten
sagte er dann.
»Wie, schwul? Du stehst auf Männer? Du? Du bist doch gar nicht der Typ dafür.«
»Wiebke. Nicht alle Schwulen sind Tunten mit piepsiger Stimme. Ich bin ein harter Junge. Im Job und im Privatleben. Aber ich bin auch so warm, dass man auf meinem Hintern Toastbrot rösten könnte. Ich wundere mich, dass die Jungs von der Stasi das nie bemerkt haben. Waren wohl doch nicht so perfekt, wie sie sich immer gaben.« Nach einer kurzen Pause fügte er mit einem fast verklärten Gesichtsausdruck hinzu: »Oder ich war besser als die!«
»Und was war mit Christine?«
»Wir haben uns gegenseitig gedeckt. Sie war lesbisch, ich schwul. Wir konnten das nicht offiziell zugeben. Also haben wir uns gegenseitig als Partner vorgestellt, wenn es nötig war.«
»Onkel, jetzt bist du doch noch ein Held geworden«, sagte Wiebke und fiel ihm um den Hals.
»Warum?«
»Weil du ehrlich zu mir warst, obwohl du hättest lügen können. Ich liebe nicht nur schwache, sondern vor allem ehrliche und aufrichtige Menschen, auch wenn es Jahrzehnte dauert.«
»Dann packe ich also die Rosenschere beiseite und tue endlich mal wieder was Vernünftiges.«
»Dich scheint die Sache zu reizen.«
»Ganz ehrlich, Wiebke«, sagte Randolf. »Das Leben eines Rentners ist unglaublich öde und langweilig.«
Sie verabschiedeten sich voneinander, und Wiebke fuhr wieder ins Kommissariat. Viel Zeit hatte er nicht, ihr Onkel. Der Jüngste war er mit seinen vierundsiebzig Jahren ganz gewiss nicht mehr, und das letzte Mal, dass seine Fähigkeiten gebraucht worden waren, war auch schon zwei Jahrzehnte her. Wiebke machte sich Sorgen, aber der Plan war ohne jede Alternative.
3
Das Wochenende dient doch der Entspannung, dachte sie muffig, während sie eine Vase in Zeitungspapier wickelte und zu anderem Krimskrams in einen Umzugskarton packte. Entspannt fühlte sie sich aber gerade nicht.
Sie konnte es drehen und wenden, wie sie wollte. Der Tag rückte unerbittlich näher. Der Tag, an dem sie zu ihrem Verlobten ziehen sollte.
Nach einer arbeitsintensiven Woche hatte Wiebke gestern gemeinsam mit Thomas auf dessen Boot gefaulenzt, aber der Sonntag war für die Umzugsvorbereitungen reserviert.
Ihre Wohnung hatte schon alles Gemütliche verloren. Überall standen Kartons herum, auf denen »Küche«, »Wohnzimmer«, »Bad« oder »Büro« stand, damit sie hinterher auch alles wiederfinden würde. Hoffentlich.
Der Umzug machte ihr deutlich, dass ein ganzer Lebensabschnitt endete. Mit jedem Handgriff beendete sie ihr altes und bereitete ihr neues Leben vor.
»Wo ist denn Thomas?«, fragte Günter, der ihr selbstverständlich half. Es war so selbstverständlich, dass sie sogar vergessen hatte, sein Angebot zunächst höflicherweise abzulehnen.
»Der ist mit seinem Bruder segeln. Jedenfalls tun sie das, was er unter Segeln versteht.«
»Was versteht er denn darunter?«, fragte Günter.
»Ach«, meinte Wiebke lächelnd. »Da hat er eine Macke. Er fährt immer unter Motor drei Meilen nach Norden, dann drei nach Osten, drei nach Süden und wieder drei nach Westen. Wenn er dann den Hafen sieht, freut er sich wie ein Kind.«
»Jedem Tierchen sein Pläsierchen«, bemerkte Günter. Wiebke spürte förmlich den Sarkasmus. Dann sagte er: »Ich helfe dir gerne, das weißt du. Nur ihn verstehe ich nicht. Seine Verlobte packt ihre Sachen, um bei ihm einzuziehen, und er zieht es vor, mit seinem Bruder segeln zu gehen.«
»Ehrlich gesagt, wollte ich ihn nicht dabeihaben«, sagte sie leise.
»Warum nicht?«
Sie druckste etwas herum. Dann sagte sie: »Das hat zwei Gründe. Erstens ist Thomas so ordentlich, dass wir uns dabei garantiert in die Wolle kriegen würden. Und zweitens …«
»Was, zweitens?«
»Zweitens wollte ich in Ruhe Abschied nehmen.«
»Abschied? Wovon?«
»Günter«, sagte sie mit feuchten Augen. »Ich habe noch nie mit einem Mann zusammengelebt. Ich hatte immer meine eigene Wohnung. Mein Refugium, in dem es aussehen konnte, wie ich es wollte. Wem es passte, der kam vorbei und war willkommen. Alle anderen konnten mit ihren Hintern auch gerne zu Hause bleiben. Ich musste auf niemanden Rücksicht nehmen. Ich konnte mit Chips krümeln, wie ich wollte. Ich konnte meine Spülmaschine erst dann anstellen, wenn ich der Meinung war, dass der Geruch unerträglich geworden war. Ich konnte meine Wäsche in der Badewanne zwischenlagern, bis ich alle paar Wochen einmal Lust auf eine Bügel-Session hatte. Ich konnte …« Ihr fehlten auf einmal die
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