Kalte Fluten
hörte er seine Stimme direkt an seinem Ohr.
»Jetzt kletterst du auf das Eis. Pass auf, es ist glatt.«
»Nein«, flehte Olaf. »Bitte nicht.«
Er sah in die Mündung und roch das Pulver der beiden Schüsse, die Friedhelm Münzer und seinen Hund getötet hatten. Er quälte sich auf die Eisblöcke.
»Alle sind gleich«, sagte der Mann. »Alle hoffen auf Rettung. Du hast jetzt die Wahl. Soll ich dich erschießen? Oder willst du hoffen, dass dich einer rettet?«
Olaf sagte gar nichts. Er stand auf dem Eis, zitterte vor Angst und sah die Schlinge des Stricks neben sich baumeln.
»War auch nur ein Scherz«, sagte der Mann. »Du hast keinen schnellen Tod verdient.«
Er bestieg die Leiter und legte die Schlinge um Tormanns Hals. Er zog sie fest zu, aber nicht zu fest. Er wollte, dass sein Opfer noch atmen konnte.
Tormann liefen die Tränen aus den Augen.
»Gnade«, winselte er. »Gnade.«
»Gnade hat nur verdient, wer auch gnädig war.«
Er stellte einen Wecker und ein Schild auf.
»Hier siehst du eine Uhr. Nach meinen Berechnungen stehst du in etwa zwei Stunden auf Zehenspitzen, damit dich der Strick nicht erwürgt. Noch eine Stunde später ist das Eis so geschmolzen, dass du dich selbst strangulierst. Es wird richtig lange dauern, bist du keine Luft mehr kriegst. So wie es Abschaum wie du verdient hat. Und während der ganzen Zeit siehst du dieses Schild hier. Was liest du da?«
Tormann schwieg.
»Ich will wissen, was du da liest!«, herrschte ihn der Mann an.
»Bereue«, sagte Tormann.
»Genau das wirst du jetzt tun. Bereuen.«
Der Mann öffnete das Scheunentor, fuhr seinen Wagen heraus und schloss das Tor wieder. Er hörte Tormann verzweifelt rufen. Um Hilfe schreien. Um Gnade winseln. Er lachte. Noch ein Rentner würde in diese Einöde nicht kommen. Jedenfalls nicht die nächsten zwei Stunden.
Olaf Tormann hatte Glück.
Es sollte sogar drei Stunden dauern, bis er tot war. Es war eine Erlösung.
3
Die Sonne strahlte vom wolkenlosen Himmel. So wie es sich für den schönsten Tag des Lebens gehört. Schönes Wetter ist ein Vorbote einer langen, glücklichen Ehe, sagt der Volksmund.
So eine Scheiße, dachte Wiebke. Warum passt dieses verdammte Ding nicht? Sie mühte sich, in das weiße Seidenkleid zu kommen. Es hatte bei der Probe gepasst, aber da waren auch drei Verkäuferinnen dabei gewesen, um ihr hineinzuhelfen. Heute war sie allein.
Sonst half ja die Mutter der Tochter beim Anlegen des Brautkleides. Aber Mama war tot. Brautjungfern waren auch keine zugegen. Erstens deswegen nicht, weil in Wiebkes Bekanntschaft keine Jungfrauen mehr verfügbar waren, und zweitens, weil sie es albern gefunden hätte, wenn in ihrem Alter Frauen hinter ihr Blumen streuen würden.
Endlich gab der Reißverschluss ihren Bemühungen nach, und sie betrachtete sich vor dem Spiegel in ihrem Zimmer. Im Wohnzimmer wartete Thomas auf seine Braut. Onkel Randolf hatte sich, wenn auch mürrisch, bereit erklärt, die Rolle des Brautvaters zu übernehmen.
Die einzigen weiteren Gäste, Günter und Wolfgang, waren schon zum Standesamt vorgefahren und warteten auf das glückliche Paar.
»Wie weit bist du?«, hörte sie Randolf durch die geschlossene Tür fragen.
»Bin gleich fertig«, rief sie, während sie sich im Stillen verfluchte, diese Schuhe gekauft zu haben. Sie waren ohne Frage schön. Sie passten perfekt zu dem Kleid. Es hatten unbedingt diese sein müssen, wenn auch eine Nummer zu klein, weil ihre Größe nicht mehr auf Lager war.
Es ist der wichtigste Tag deines Lebens.
Ich weiß, Mama.
Sie trat schließlich ins Wohnzimmer. Thomas sah sie lächelnd und offensichtlich auch stolz an. Randolf staunte. Sie war schön. Das strahlende Weiß des Kleides bildete einen perfekten Kontrast zu ihrem brünetten Haar. Das die Figur betonende Kleid unterstrich Wiebkes weibliche Rundungen, ohne aufreizend zu wirken. Das hätte Thomas auf keinen Fall gefallen.
»Na, wie sehe ich aus?«, fragte sie. Ihren Augen konnte man die jungmädchenhafte Unsicherheit ansehen, die Frauen in bestimmten Situationen nie verlieren, ganz gleich, wie alt und erfahren sie auch sein mögen.
»Wie ich es von Anfang an gesagt habe«, erwiderte Thomas. »Eine bemerkenswert schöne Frau.«
Er trug einen schwarzen Smoking. Das und seine perfekte männliche Figur, sein akkurater Haarschnitt sowie die Kette der goldenen Repetieruhr gaben ihm ein aristokratisches, aber auch konservatives Aussehen.
Es ist eine Hochzeit, kein
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