Kalte Fluten
auf Dauer in die Psychiatrie einweisen müssen. Das wird die Hauptverhandlung ergeben. Hervorragende Arbeit. Machen Sie sich keinen Kopf.«
Wiebke sah es ein. Sie hatte in diesem Fall mehr zusammengetragen als in so manchem Indizienfall vorher. Und dennoch hatte sie ein ungutes Gefühl.
Kiesewetter unterschrieb ungerührt das Vernehmungsprotokoll. Dann winkte er Wiebke heran und flüsterte ihr ins Ohr: »Ich war es nicht. Aber ich nehme es auf mich. Damit der wirkliche Täter weiter Gutes tun kann.«
Ihr lief es heiß und kalt den Rücken runter. War Kiesewetter nur ein Spinner und diese Behauptung dummes Gerede? Hoffentlich.
Nachdenklich ging sie in ihr Büro und setzte sich an ihren Schreibtisch. Sie grübelte eine Zeit lang vor sich hin, als ein Anruf von Zielkows Vorzimmerdame sie aus ihren Gedanken riss. Der Chef wollte sie sehen.
»Ich komme sofort«, sagte sie.
»Meine liebe Frau Sollich«, sagte Zielkow zur Begrüßung. »Ihre Erfolge werden ja bald beängstigend.« Überschwänglich schüttelte er ihre Hand. »Conrad hat mich angerufen und mir von der Verhaftung und dem Geständnis dieses Kiesewetter erzählt. Meine Hochachtung.«
Wiebke vermied es, ihre Zweifel zu äußern. Sie würde sich lächerlich machen. Außerdem war es ja ihre Idee gewesen, nach dem Typen im Internet zu fahnden. Sie hatten ihn. Er war geständig. Was wollte sie mehr?
»Sie sehen so geistesabwesend aus, Frau Kollegin«, bemerkte Zielkow. »Ist was?«
»Sie wissen, dass ich am Sonntag heiraten werde. Ich war mit den Gedanken ganz woanders.«
»Wie unsensibel von mir, Frau Kollegin. Wird es eine große Feier?«
»Nein, nur der engste Familien- und Freundeskreis. Wir sind ja keine zwanzig mehr.«
»Das ist sehr weise von Ihnen. Es gibt nichts Schrecklicheres als diese Mammuthochzeiten. Glauben Sie mir, als Vater von inzwischen drei erwachsenen und verheirateten Töchtern kann ich ein Lied davon singen. Aber trotzdem: Sie gehen jetzt nach Hause. Morgen möchte ich Sie hier nicht sehen. Alles Gute für die Hochzeit.«
»Danke, Chef.«
»Nein, meine Liebe. Ich danke Ihnen .«
Wiebke verließ das Büro.
Zielkow zündete sich einen Zigarillo an und dachte, dass Wiebke die Nachfolge von Wolfgang Franke antreten könnte, wenn dieser seinen Dienst quittieren würde. Bald, wenn seine gesundheitlichen Probleme sich nicht mehr kaschieren ließen. Also sehr bald.
***
Der Ort war wie geschaffen für sein Vorhaben. Eine alte, vergessene Scheune. Einsam gelegen. Weit und breit kein anderes Haus. Weit und breit kein Mensch.
Dachte er.
Ein anderer, Friedrich Münzer, suchte ebenfalls die Abgeschiedenheit dieser Gegend. Seit dem Tod seiner Frau vor zwei Jahren fand er Ablenkung und gelegentlich gütiges Vergessen, indem er mit seinem Dackel Archibald über die unendlichen Felder Mecklenburgs spazierte. Stundenlang. Bis sie irgendwann zu seinem Lada zurückkehrten und wieder in die Plattenbauwohnung fuhren. Das Leben hatte nicht mehr viel zu bieten für Friedrich Münzer. Hier in der Abgeschiedenheit konnte er nachdenken. So lange, bis es nicht mehr wehtat.
»Was wollen Sie von mir?«, fragte Olaf Tormann. »Ich habe Geld. Ich kann es herbringen lassen.«
»Geld?«, lachte der Mann in der Scheune höhnisch, während er Eisquader aus seinem in der Halle geparkten Wagen auslud. »Ich brauche kein Geld. Ich will auch kein Geld.«
»Was erwarten Sie von mir?« Tormann versuchte sinnloserweise, die Kabelbinder, die seine Hände und Füße zusammenhielten und sich tief in das Fleisch bohrten, zu lockern. Außer dass die Wunden an den Gelenken tiefer wurden, passierte nichts.
»Ich erwarte von Ihnen, dass Sie bereuen. Und dann erwarte ich von Ihnen, dass Sie sterben. Qualvoll sterben.«
»Sie sind ja verrückt«, brüllte Tormann. »Völlig übergeschnappt. Sie Wahnsinniger!«
»Ich mag wahnsinnig sein, vielleicht. Aber sie werden tot sein. Das ist der entscheidende Unterschied.«
»Was ist, Archibald?«, fragte Friedrich Münzer seinen Hund. Der sechsjährige Kurzhaardackel hatte offensichtlich Witterung aufgenommen und zerrte an der Leine. »Hast du was entdeckt?«
Nur mit Mühe konnte Friedrich Münzer seinem hechelnd in Richtung Scheune ziehenden Hund folgen.
Er begann, die aus den Styroporverpackungen ausgeladenen Eisquader aufzuschichten.
»Was haben Sie vor?«, fragte Tormann. Er bekam Angst. Noch vor drei Stunden hatte er gedacht, der Mann, der ihn mit vorgehaltener Pistole zwang, in das Auto zu steigen,
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