Kalte Freundschaft
er sich ein wenig distanziert gibt - vielleicht, weil er noch nicht so lange zum Team gehört.
»Guten Morgen, Nadine! Bringst du mir einen
Kaffee mit?« Marijke knöpft noch im Gehen ihre Jacke auf.
»Wird gemacht.«
Mit zwei Bechern geht Nadine zurück ins Großraumbüro, wo es sich Marijke bereits bequem gemacht hat.
»Hast du schon von dem Mord gehört?«, fragt sie.
»Von welchem Mord?«
»In der Nacht zum Sonntag ist eine Vierundzwanzigjährige umgebracht worden. Hier in Leiden, stell dir vor! Sie wurde erwürgt und wie ein Sack Müll ins Gebüsch geworfen. Furchtbar, nicht wahr?«
»O Gott! Wer denn? Wie heißt das Opfer?« Nadine ist schockiert.
»Keine Ahnung. Gestern war der Name noch nicht bekannt. Arnout hat recherchiert und einen Artikel geschrieben.«
Nadine greift nach dem druckfrischen Exemplar des Leidsch Dagblad auf ihrem Schreibtisch und liest gleich auf der ersten Seite:
JUNGE FRAU ERMORDET
LEIDEN - Im Leidener Stadtteil Vreewijk wurde am Sonntagmorgen die nackte Leiche einer 24-jährigen Frau gefunden. Untersuchungen ergaben, dass mit einem schweren Gegenstand auf ihren Kopf eingeschlagen wurde. Danach wurde sie erwürgt.
Das Opfer war nach einem Kneipenbesuch auf dem Heimweg. Bekannte haben gesehen, dass
die junge Frau das Lokal allein verließ. Stunden später wurde ihre Leiche in einer Grünanlage gefunden. Die Polizei schließt ein Sittlichkeitsdelikt nicht aus.
Nadine setzt sich und liest die Meldung noch einmal.
»Vierundzwanzig …«, murmelt sie vor sich hin.
Als sie den Blick hebt, weist Marijke mit dem Kinn zur Garderobe, wo Arnout gerade aus der Jacke schlüpft. »Da ist er ja«, sagt sie und winkt dem Kollegen zu.
Arnout, ein blonder Hüne, hängt seine Jacke auf und kommt dann auf sie zu.
»Was für eine Schlagzeile!«, sagt Nadine. »Hattest du einen Tipp bekommen?«
Als Reporter für das Ressort »Leiden und Umgebung« ist Arnout vor allem für die Verbrechensberichterstattung zuständig. Er weiß, was sich in der Stadt tut, kennt jede Menge Leute und hat überall Kontakte.
Er sieht allerdings nicht aus, als freute er sich über die Exklusivmeldung. Müde fährt er sich mit der Hand durchs Haar. »Das Mädchen war bildschön! Dass mir solche Artikel keinen Spaß machen, könnt ihr euch denken. Ein Freund von mir, der in der Gegend wohnt, hat mich angerufen. Als ich hinkam, waren noch nicht mal die Leute von der Spurensicherung vor Ort, sodass ich ungestört fotografieren konnte.«
»Glück gehabt«, meint Marijke trocken. »Weißt du schon Näheres?«
»Nein, solange ich den Namen nicht kenne, kann ich nicht weiterrecherchieren. Aber den erfahre ich bestimmt bald vom Pressesprecher der Polizei«, sagt Arnout. »Pass bitte auf, mit wem du dich verabredest«, meint er dann zu Nadine. »Das Mädchen war in der gleichen Kneipe, in der du öfter bist.«
Um neun meldet sich der Pressesprecher des Regionalpolizeikorps Holland-Mitte und sagt, er habe eine Mail mit Foto geschickt.
Arnout öffnet sogleich die Anlage. Etliche Kollegen stehen hinter ihm, als das grob gerasterte Bild einer lächelnden jungen Frau mit braunem Haar auf dem Monitor erscheint.
Melissa Martens.
Schweigend betrachtet Nadine das Foto. Und jetzt ist sie tot, denkt sie, erwürgt auf dem Nachhauseweg von der Kneipe. Bestimmt hat sie sich auf den Abend gefreut, sich hübsch angezogen und geschminkt - genau wie ich am Freitagabend.
»Armes Ding«, sagt sie leise. »Hoffentlich findet man den Täter bald.«
Sie reden noch kurz, dann geht jeder wieder an seine Arbeit. Eine Besprechung steht an, Mails müssen beantwortet und Telefonate entgegengenommen werden. Etliche Kollegen verlassen das Großraumbüro, um Außentermine wahrzunehmen. Schon
bald ist die Nachricht vom Mord an Melissa Martens in der täglichen Routine untergegangen.
Nadine lässt den Blick schweifen und überlegt, ob sie wohl die Einzige ist, die so etwas nicht so leicht abschütteln kann. Ein paar Kollegen haben vorhin sogar über den Mord gewitzelt. Ihr ist bewusst, dass sie es nicht böse meinen, sondern sich letztlich nur damit abgrenzen. Aber ihre Art ist das nicht …
In der nächsten Stunde geht es rund. Um zehn finden sich alle im Besprechungsraum ein, um mit Kollegen die Themen des Tages durchzusprechen und die Titelseite für die morgige Ausgabe zu planen.
»Vorhin kam die Meldung rein, dass es in der Türkei ein Erdbeben gab«, so Roel, der Chefredakteur. »Damit kommen wir groß raus, zurzeit sind jede Menge
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