Kalte Freundschaft
ich will oder nicht. Ich lege ihr die Hand auf die Schulter und sage: »Hallo!«
Sie wendet mir das Gesicht zu. Ein bildschönes Gesicht, umrahmt von glattem braunem Haar. Ihr Blick ist fragend. Erstaunt.
»Kennen wir uns?«
»Oh, Verzeihung.« Ich setze eine zerknirschte Miene auf, so als hätte ich den Irrtum gerade erst bemerkt. »Ich habe dich verwechselt.«
»Macht nichts.« Sie wendet sich wieder ihrer Freundin zu.
Es macht mir keine Mühe, mich in ihr Gespräch einzuklinken, denn es fällt mir leicht, Kontakte zu knüpfen. Bald unterhalten wir uns zu dritt.
Irgendwann muss die Freundin gehen. Sie bleibt. Ich auch. Wir reden über unsere Arbeit und stellen fest, dass wir gemeinsame Bekannte haben. Der Alkohol löst meine Hemmungen, dennoch sind meine Annäherungsversuche zunächst vorsichtig. Ein vertrauliches Hinbeugen, eine flüchtige Berührung ihrer Hand. Unmerklich rücke ich näher, bis unsere Hüften sich berühren.
Sie protestiert nicht. Denkt sich nichts dabei.
Bis ich die Hand auf ihr Knie lege. Erschrocken und irritiert starrt sie mich an. Schiebt die Hand weg.
»Was soll das?« Ihre Stimme klingt schrill.
»Verzeihung, ich dachte …«
Ich bekomme keine Gelegenheit, etwas zu erklären. Wortlos steht sie auf und geht zur Toilette. Sieht sich noch einmal um.
Dieser Blick gibt den Ausschlag. Ich kenne ihn nur zu gut. Etwas in mir zieht sich zusammen, alte Wunden brechen auf.
Auf der Theke steht noch ihr halb volles Bierglas. Ich ziehe es zu mir heran.
Als sie von der Toilette kommt und an mir vorbeiwill, halte ich sie auf.
»Es tut mir leid, ich bin ein wenig beschwipst. Aber so schlimm, dass du gleich gehen musst, war es doch auch wieder nicht. Komm, setz dich doch!« Ich schiebe ihr das Bier hin.
»Ich gehe nicht. Ich will nur nicht neben dir sitzen.« Ein eiskalter Blick trifft mich.
Spontan greife ich nach ihrem Arm.
»Fass mich nicht an!«, zischt sie.
Sie reißt sich los, nimmt ihr Glas und geht ans andere Ende der Theke.
Schön und unerreichbar sitzt sie auf einem Barhocker, trinkt ihr Bier … und lässt sich von dem Kerl neben ihr noch eines spendieren. Nach einer Weile macht er sich an sie heran. Doch dann tut das GHB seine Wirkung.
8
Am Montagmorgen ist es sonnig und nicht zu warm, zweiundzwanzig Grad. Nadine genießt es, mit dem Rad zur Arbeit zu fahren. Früher, als die Redaktion des Leidsch Dagblad noch im Gewerbegebiet an der Rooseveltstraat lag, musste sie das Auto nehmen und außerdem in der Kantine zu Mittag essen.
Dann kam der Umzug in die 3e Binnenvestgracht am Rand der pulsierenden Leidener Innenstadt. Fast alle begrüßten die Ortsveränderung. Eine Kantine gibt es zwar nach wie vor, aber auch jede Menge gemütliche Restaurants und Kneipen in der näheren Umgebung.
Als Nadine das imposante Backsteingebäude betritt und die Treppe zum dritten Stock hinaufgeht, denkt sie an Eelco. Vermutlich ist er jetzt auf dem Weg zur Arbeit, kommt in sein Büro, hängt die Jacke auf, holt sich Kaffee und wirft den Computer an. Dann findet er ihr Manuskript vor und druckt es aus. Ob er es wohl gleich liest? Nein, das wäre zu viel erwartet - schließlich hat der Mann anderes zu tun. Wahrscheinlich wird es eine ganze Weile dauern, bis
sie von ihm hört. Eine Woche, wenn nicht gar einen ganzen Monat …
Mit einem fröhlichen »Guten Morgen« betritt Nadine das Großraumbüro.
Nadines Arbeitsplatz befindet sich am Fenster; von dort hat sie einen schönen Blick auf die Marekerk, die über den Hausdächern aufragt und sich vor dem blauen Himmel abzeichnet. Ein Stück weiter links ist das Flachdach des Polizeireviers zu erkennen.
Die Kulturredaktion besteht aus drei Personen. Gemeinsam mit ihren Kollegen Marijke und Lars berichtet Nadine über Musik-, Theater- und sonstige Veranstaltungen, die Leiden zu bieten hat. Täglich stellen sie eine Seite aus regionalen, aber auch landesweit relevanten Kulturnachrichten zusammen. Nadines Spezialgebiet ist die Literatur. Sie sichtet unter anderem die Neuerscheinungen, entscheidet, welche Bücher besprochen werden sollen, und hält Kontakt zu verschiedenen Rezensenten.
Sie stellt ihre Tasche ab und hängt den weißen Trenchcoat an die Garderobe.
Auf dem Weg zum Kaffeeautomaten begegnet sie Marijke. Ihre Kollegin ist Anfang fünfzig, stämmig und trägt das graue Haar so lang, dass Nadine gern ein Stück davon abschneiden würde.
Sie mag Marijke gern, mit ihr kann man gut zusammenarbeiten. Auch mit Lars versteht Nadine sich, obwohl
Weitere Kostenlose Bücher