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Kalte Freundschaft

Titel: Kalte Freundschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone van Der Vlugt
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man, dass sie umgebracht wurde?«
    »Ja, und zwar, weil sie dieser Melissa sehr ähnlich sieht.«
    »Meine Tochter hat auch lange dunkle Haare.«
    »Ich weiß«, sagt Arnout. »Pass gut auf sie auf.«
     
    Nachdem er aufgelegt hat, tritt Nadine ans Fenster. Bestimmt ist Marielle nichts passiert. Trotzdem steigert sich die Nervosität mit jeder Minute. Sofort wählt sie Marielles Handynummer - vergeblich.
    Angst schnürt ihr die Kehle zu. Eine irrationale
Angst, redet sie sich ein. Doch seit Christiaans Unfalltod hat die Angst sie nie mehr ganz losgelassen.
    Sie schließt die Augen und atmet mehrmals tief durch: ein durch die Nase, aus durch den Mund. Sie fixiert den Laternenpfahl auf der anderen Straßenseite so intensiv, dass sie bald nur noch verschwommen sieht und die Muskeln in Nacken und Schultern sich lockern. Mit diesem Trick gelingt es ihr oft, sich zu entspannen, aber heute funktioniert er nicht.
    Mit zwei Fingern massiert sie die pochende Stirn.
    Wo ist Marielle? Die Angst wird übermächtig. Vor ihrem inneren Auge sieht sie ihre Tochter reglos in einem Park liegen, das braune Haar blutverschmiert, die Augen, die ihr nach einem qualvollen Erstickungstod aus dem Kopf quellen. Das Bild ist so deutlich, dass sie hemmungslos zu weinen beginnt.
     
    Es ist schon nach Mitternacht, und wieder steht Nadine am Fenster. Ein letztes Mal blickt sie auf die Straße hinaus und hofft inständig, dass ihr das schlimmste Telefonat ihres Lebens erspart bleibt. Dass sie sich nicht dabei zuhören muss, wie sie ihre eigene Tochter als vermisst meldet. Doch jetzt wählt sie den Notruf, und als es am anderen Ende klingelt, überläuft sie eine eisige Kälte.
    »Guten Abend, hier ist die Polizeiwache Leiden-Voorschoten. Was kann ich für Sie tun?«, meldet sich eine angenehme Männerstimme.
    Ein Fahrrad biegt in die Straße ein. Atemlos presst Nadine das Gesicht gegen die Scheibe.

    »Ich habe mich verwählt, entschuldigen Sie bitte die Störung«, sagt sie und legt auf.
    Sie rennt zur Tür, reißt sie auf. Mit schuldbewusster Miene kommt Marielle auf das Haus zu, während sie das Rad neben sich herschiebt. Ein Blick in das Gesicht ihrer Mutter verrät ihr, welche Angst sie ausgestanden hat.
    »Tut mir leid, Mam«, sagt sie leise. Sie lehnt das Rad an den Zaun und bleibt mit hängenden Schultern stehen.
    Nadine läuft auf sie zu, nimmt sie in die Arme und drückt sie fest an sich.

    Kurz nach meinem neunten Geburtstag hat meine Mutter uns verlassen. Bis dahin hatte ich mit all meiner Liebe an ihr gehangen. Und sie hat mich mit Sicherheit auch geliebt, allerdings nicht so sehr, dass sie bereit gewesen wäre, ein Opfer zu bringen.
    Meine Mutter war eine attraktive, intelligente Frau. Sie arbeitete ganztags in einer Exportfirma, wo sie als ehrgeizige Mitarbeiterin rasch Karriere machte. Dabei bemühte sie sich stets, auch Zeit für die Familie zu haben. Doch ich spürte genau, dass sie zu Hause immer ein wenig abwesend war. Die Arbeit stand für sie an erster Stelle - und mir kam es vor, als wäre sie durch unsichtbare Fäden ständig damit verbunden. Wenn sie abends mit mir spielte oder am Wochenende bei einem Sportwettkampf am Spielfeldrand
stand, um mich anzufeuern, war ihr die Unruhe deutlich anzumerken.
    Schon als kleines Kind entgingen mir diese Signale nicht. Sie hatte dann immer so ein nervöses Zucken um den Mund und sah ständig auf die Uhr.
    Als sie eines Tages ankündigte, sie ziehe demnächst aus, war ich fassungslos. Anfangs dachte ich, es sei meine Schuld, weil ich immer wieder Zeit und Zuwendung eingefordert hatte, statt sie in Ruhe arbeiten zu lassen. Dieses Schuldgefühl blieb bestehen - auch als mein Vater sagte, sie habe einen anderen Mann: einen Kanadier, der für ein halbes Jahr in ihrer Firma arbeite.
    Sehr viel später - ich stand kurz vor dem Abitur - erzählte sie mir, dass es zwischen ihr und Jack sofort gefunkt habe. Jack habe Gefühle und Sehnsüchte in ihr wiederaufleben lassen, die lange verschüttet gewesen seien.
    Damals, mit neun, hatte ich von alldem nichts mitbekommen. »Willst du jetzt in Kanada wohnen?«, fragte ich entgeistert, als sie ihre Sachen packte.
    »Einen Teil des Jahres«, sagte sie und legte mir den Arm um die Schultern. »Ansonsten wohne ich hier, in Holland. Du weißt schon, wegen meiner Arbeit.«
    »Du sollst aber nicht weggehen, Mama!« Wie eine Ertrinkende klammerte ich mich an sie. Sie versuchte mich zu trösten, drückte mich fest - und ging.
    Die ersten Monate rief sie noch

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