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Kalte Freundschaft

Titel: Kalte Freundschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone van Der Vlugt
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Entsetzen und Mitleid ihr Beileid aussprechen, aber bald schon wieder zur Tagesordnung übergehen.
    So läuft es nun einmal. Auch bei ihr: Es dauert nicht lange, und sie ist wieder ganz in ihre Arbeit vertieft.

    Nach Feierabend fährt sie noch rasch zum Supermarkt, um einzukaufen. Der Einkaufswagen ist schnell voll, sie kann die Sachen kaum mit dem Rad transportieren. Zu Hause angekommen, schleppt sie die schweren Plastiktüten in die Küche. Marielle ist da, ihre Schultasche steht im Weg. Mit dem Fuß schiebt Nadine sie beiseite, dabei fällt die Tasche um, und der Inhalt verteilt sich auf dem Fußboden.
    Seufzend räumt sie alles wieder ein - bis auf Marielles Taschenkalender. Er liegt aufgeschlagen da. Zwischen den Seiten stecken so viele Fotos und Zettel, dass er sich kaum noch schließen lässt.
    Nadine nimmt das Klassenfoto zur Hand, das zu Anfang des Jahres gemacht wurde. Marielle hat ein Stück davon abgeschnitten, weil das Bild sonst nicht in ihren Kalender gepasst hätte. Ein großes Stück - es sind nur noch wenige Klassenkameraden zu sehen. Und der Lehrer. Er steht in der zweiten Reihe, seine Hand ruht auf der Schulter des Mädchens vor ihm. Es ist Marielle. So wie das Foto beschnitten wurde, bilden die beiden den Mittelpunkt.
    Nachdenklich betrachtet Nadine das Foto. Wie heißt Marielles Klassenlehrer gleich noch mal? Offermans, genau. Sie hat ihn schon mehrmals bei Elternabenden und Schulaufführungen gesehen. Ein hochgewachsener junger Mann mit braunen Locken, kaum älter als fünfundzwanzig. Er ist ausgesprochen attraktiv und war Nadine sympathisch.
    Sie hatten nicht nur über Marielles Schulleistungen gesprochen, sondern auch über ihre literarischen
Vorlieben, und Nadine hatte ihm sogar anvertraut, dass sie selbst schreibt.
    Eine Vermutung beschleicht sie, und sie überlegt fieberhaft, wie Marielles Lehrer mit Vornamen heißt. Es will ihr aber nicht einfallen. Sie geht ins Wohnzimmer und sucht in der obersten Kommodenschublade nach dem Jahrbuch von Marielles Schule.
    Sie setzt sich an den Esstisch und blättert die Seite auf, die sämtliche Namen der Lehrer enthält. Es stehen nur Initialen vor den Familiennamen, aber egal: Sie erinnert sich jetzt ganz deutlich an den ersten Elternabend zu Beginn des Schuljahrs. Marielle stand damals nicht gut in Niederländisch, deshalb hatte sie den Lehrer angesprochen. Er hatte ihr die Hand gegeben und sich vorgestellt: »Ruben Offermans«, hatte er gesagt. Ruben …

16
    Sie streitet nichts ab. Fast wirkt es, als wäre sie erleichtert, dass das Versteckspiel nun ein Ende hat und sie offen zugeben kann, dass sie ihren Lehrer liebt. Er ist sechsundzwanzig, sie sechzehn. Dass der Altersunterschied viel zu groß ist, sieht sie ein, auch dass ihr Lehrer sich strafbar macht. Deshalb habe sie ja auch geschwiegen.
    Viel gelaufen sei im Grunde nicht. Ein bisschen Flirten und hin und wieder ein Kuss. Nicht in der Schule, obwohl das auch einmal vorgekommen sei. Im Klassenzimmer nach Schulschluss, als sie sicher sein konnten, dass niemand mehr in der Nähe war.
    Marielle erzählt, dass sich Ruben in letzter Zeit irgendwie verändert hätte. Er interessiere sich weniger für sie, gebe sich distanziert und sei oft kurz angebunden. Wahrscheinlich hätte er sich in eine andere verliebt. Vielleicht in eine Klassenkameradin oder ein Mädchen aus der Abiturklasse. Sie fahre immer wieder mit dem Rad an seinem Haus vorbei, habe aber bisher noch nichts herausgefunden.
    Jetzt weint sie. Nadine streicht ihr tröstend übers Haar, aber innerlich kocht sie vor Wut auf diesen
Schuft, der ihrer Tochter erst den Kopf verdreht hat und sie dann einfach links liegen lässt.
    Als Marielle sich einigermaßen beruhigt hat und auf ihr Zimmer gegangen ist, sucht Nadine Ruben Offermans’ Telefonnummer heraus.
    »Hier Offermans.«
    »Guten Abend. Hier spricht Nadine van Mourik, Marielles Mutter.« Sie bemüht sich um einen sachlichen Tonfall. Der Name Marielle scheint zu genügen, um Ruben einen höflich-vorsichtigen Ton anschlagen zu lassen: »Guten Abend. Was kann ich für Sie tun?«
    »Ich würde gern mit Ihnen sprechen. Aber nicht am Telefon, sondern persönlich.«
    »Gern, demnächst findet ein Elternabend statt.«
    »Das ist mir bekannt, aber zum einen ist es dringend, und zum anderen wird es mit Sicherheit ein längeres Gespräch«, sagt Nadine gelassen.
    »Wenn das so ist … Ich schau mal eben in meinen Terminkalender.« Er klingt leicht nervös.
    Nadine hört ihn blättern, dann sagt er:

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