Kalte Freundschaft
»Nächste Woche Mittwoch hätte ich Zeit. Donnerstag ginge auch, ganz wie es Ihnen passt.«
»Wie wäre es mit jetzt gleich?«
Sie sitzen sich in seinem Wohnzimmer gegenüber. Helle Buchenmöbel, ein Sofa mit orangefarbenem Überwurf - der Raum hat Atmosphäre und sieht ganz anders aus, als Nadine es bei einem jungen Mann erwarten würde.
Sie schlägt die Beine übereinander und lehnt sich zurück, damit er ihr die Nervosität nicht anmerkt. Im Grunde ist sie auch nicht nervös, sondern wütend. Die ganze Fahrt über hat sie versucht, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Der Wunsch, ihm eine kräftige Ohrfeige zu verpassen, war so übermächtig, dass sie sogar überlegt hat, ob es nicht besser wäre, das Treffen zu verschieben.
Aber als er ihr aufmacht und vor ihr steht, legt sich ihre Wut ein wenig. Der junge Mann, der sie hereinbittet, verlegen an seinem T-Shirt zupft und ihr etwas zu trinken anbietet, hat so gar nichts von dem Don Juan, den sie sich vorgestellt hatte.
»Sie können sich bestimmt denken, weshalb ich hier bin.« Nadine rückt die Kissen in ihrem Rücken zurecht. »Wir müssen miteinander reden, und zwar nicht über Marielles Schulnoten.«
Er nickt wortlos. Seine abwartende Haltung verrät, dass er noch hofft, sie sei wegen etwas ganz anderem gekommen.
Diese Hoffnung wird Nadine ihm gleich nehmen, aber sie geht es ruhig an: »Marielle kommt mir schon eine ganze Weile seltsam vor«, sagt sie mit Bedacht, anstatt ihn mit Vorwürfen zu überschütten. Von Angesicht zu Angesicht fällt es ihr keineswegs leichter, auf den Punkt zu kommen.
»Erst habe ich mir keine Gedanken darüber gemacht«, fährt sie fort, »weil ich dachte, das ist nun mal so in dem Alter. Heranwachsende haben schließlich öfter Stimmungsschwankungen.«
Ruben hört ihr zu und nickt, aber kein Wort kommt über seine Lippen.
»Ist Ihnen das auch an Marielle aufgefallen?«, fragt sie.
»Nicht dass ich wüsste.« Er ist auf der Hut. »Wissen Sie, ich habe viele Schüler und …«
»Aber manchen sind sie mehr zugeneigt als anderen, besonders den Schülerinnen, nicht wahr?«
Ihre Blicke treffen sich, messen sich miteinander.
Er lässt sich nicht aus der Reserve locken, also muss sie wohl direkt zur Sache kommen.
»Herr Offermans, Marielle hat mir vorhin alles erzählt: dass sie sich in Sie verliebt hat und Sie sie geküsst haben.« Ein leichtes Zittern in ihrer Stimme verrät, wie viel Selbstbeherrschung es sie kostet, Ruhe zu bewahren.
Mit einem tiefen Seufzer gibt Ruben Offermans sich geschlagen. »Glauben Sie mir, da war nicht viel, und jetzt ist es ohnehin vorbei. Ich bin schwach geworden, ja, das gebe ich zu. Als junger Gymnasiallehrer hat man es unter so vielen hübschen Mädchen nicht eben leicht. Mir ist natürlich bewusst, dass sie meine Schülerinnen sind, aber ich sehe sie auch oft in der Stadt oder in der Kneipe. Und manche wirken so erwachsen … man vergisst glatt, dass sie minderjährig sind.«
»Das sind sie aber. Und außerdem verletzlich«, sagt Nadine. »Schnell verliebt, leichtgläubig. Ein Lehrer muss sich darüber stets im Klaren sein.«
Sie mustert ihn. Mit Sicherheit ist ihm klar, dass er
einen Fehler begangen hat, und nun fürchtet er, seine Stelle zu verlieren.
»Sie haben vollkommen recht …«, murmelt er zerknirscht.
»Treffen Sie sich noch mit Marielle?«
Er schüttelt den Kopf. »Anfangs fand ich nichts dabei, mit ihr und anderen Mädchen ein wenig zu flirten. Manche legen es ja geradezu darauf an. Ich weiß, das ist keine Entschuldigung, und ich hätte Grenzen ziehen müssen. Aber mehr als eine Spielerei war das mit Marielle nicht. Ich hatte keine Ahnung, dass sie die Sache so ernst nimmt.«
»Sie haben meine Tochter geküsst«, sagt Nadine kühl. »Wie soll eine Sechzehnjährige das Ihrer Meinung nach verstehen?«
Er senkt den Blick.
»Was soll ich sagen?«, kommt es leise. »Es gibt da im Grunde keine Entschuldigung. Als ich einsah, dass es ein Fehler war, ging ich langsam auf Distanz. Ich habe zwar gemerkt, dass ich Marielle damit wehtat, und kam mir ziemlich mies dabei vor. Aber es war das Beste, was ich tun konnte.«
»Nein!« Nadine beugt sich vor. Ihre Stimme ist so leise wie seine, aber schneidend. »Sie hätten mit ihr reden, ihr die Situation erklären müssen! Wenn Sie das gemacht hätten, könnte ich noch ein wenig Respekt für Sie aufbringen. Aber so habe ich große Lust, Sie anzuzeigen.«
Der Satz hängt schwer im Raum.
Nadine behält Ruben genau im Auge.
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