Kalte Freundschaft
öfter an und schickte Briefe, aber das wurde bald weniger. Anfangs machte
mich jedes Lebenszeichen überglücklich. Wenn sie schrieb, ich würde ihr sehr fehlen, sah ich darin den Beweis, dass sie ohne mich nicht leben konnte. Das nährte meine Hoffnung, dass sie bald wiederkommen würde.
Aber dem war nicht so. Mit der Zeit schlief der Kontakt nahezu ein. Aber an mir lag das nicht: Ich saß stundenlang in meinem Zimmer, schrieb ihr Briefe und wartete dann sehnsüchtig auf Antwort. Nur hin und wieder schickte sie ein paar nichtssagende Zeilen.
Als ich in die Pubertät kam, hatte ich die Nase voll und stellte das Briefeschreiben ein.
Was einem in der Kindheit entgangen ist, lässt sich nicht mehr aufholen. Die Vergangenheit nagt an mir wie ein Hund an einem Knochen. Es muss nicht still sein, damit ich das Knirschen höre - in meinem Innern ist es ständig wahrnehmbar.
15
»Wie war dein Wochenende?«, fragt Marijke.
Es ist Montagmorgen, der Arbeitstag hat begonnen, und Nadine sitzt ihr gegenüber.
Die vermisste Sechzehnjährige ist wieder aufgetaucht: Sie war von zu Hause weggelaufen und hatte sich bei einem Freund in Amsterdam einquartiert. Die Erleichterung ist groß - nicht nur bei den Eltern des Mädchens.
»Wie immer, nichts Besonderes.« Nadine will weder von ihrem Buch noch von Eelco erzählen. Marijke ist zwar nett, aber niemand, den man gern ins Vertrauen zieht. Was man ihr mitteilt, kann man ebenso gut gleich in die Zeitung setzen. Außerdem lassen sich ihre Wochenenderlebnisse ohnehin nicht in ein paar wenigen Worten zusammenfassen.
Die Angst um Marielle steckt ihr noch ein wenig in den Knochen, deshalb nimmt sie sich den Fall der ermordeten Melissa besonders zu Herzen. Das Ganze hat ihr so zugesetzt, dass sie sogar Eelco absagte, der am Sonntag kommen wollte. Stattdessen hat sie Zeit mit Marielle verbracht, die wider Erwarten ihre Freunde zum Grillen eingeladen hatte.
Die Jugendlichen, mit denen Marielle sich derzeit umgibt, findet Nadine durchaus sympathisch. Ein Junge namens Ruben war allerdings nicht dabei. Auf ihr neuerliches Nachfragen hatte Marielle behauptet, Ruben gehöre nicht zu ihrem engeren Freundeskreis, und am Abend im Garten war der Name nicht ein einziges Mal gefallen.
Nadine hatte sich große Mühe gegeben, es Marielles Clique nett zu machen; sie fuhr sogar noch zur Tankstelle, um Alkopops zu kaufen, weil »nur Cola« nicht cool genug war.
»Was hast du denn unternommen?«, fragt Nadine, als die Kollegin sie weiterhin ansieht.
Mit einem Seufzer wirft Marijke die grauen Haare zurück. »Meine Tochter war mit den Zwillingen zu Besuch. Das hat mich zwar gefreut, aber ich war dann bis spätabends mit Aufräumen beschäftigt. Unfassbar, was diese zwei Knirpse für ein Chaos anrichten können!«
Nadine nickt verständnisvoll.
Inzwischen ist ihr Computer hochgefahren. Sie öffnet Outlook, gleich darauf füllt sich die Mailbox.
Nadine überfliegt die Absender und Betreffzeilen. Die Buchhandlung Kooyker kündigt eine Lesung an, der Kunstverein »De Burcht« schickt sein Monatsprogramm … Nadine beantwortet längst nicht alle Mails, obwohl sie weiß, dass dann jede Menge Nachfasstelefonate zu erwarten sind. Es ist nicht leicht, den Leuten klarzumachen, dass die Kulturseite schnell gefüllt ist. Oft kann sie allenfalls eine Erwähnung
im wöchentlichen Veranstaltungskalender anbieten.
Um halb zehn beginnt die morgendliche Besprechung. Sie steht noch ganz im Zeichen des Mordes an Melissa Martens.
»Wir müssen unbedingt mehr in Erfahrung bringen«, meint Roel. »Die Leser wollen wissen, was Sache ist und ob die Polizei schon einen Täter im Visier hat.«
»Ich rufe nachher den Pressesprecher an«, sagt Arnout. »Mit Sicherheit liegen schon Erkenntnisse vor, aber ich schätze mal, dass er nichts sagen darf, um die Ermittlungen nicht zu behindern.«
Das Regionalpolizeikorps Holland-Mitte hat eine gut funktionierende Presseabteilung. Zweimal täglich werden die Medien über schwere Unfälle, Brände, Diebstähle, Überfälle und andere Delikte informiert. Dass die Polizei nicht alles nach draußen gibt, versteht sich von selbst, aber auch, dass die Journalisten sich nur selten mit den erhaltenen Informationen zufriedengeben.
Nadine stellt sich unwillkürlich vor, wie ihr Leben jetzt aussähe, wenn Marielle am Samstagabend nicht nach Hause gekommen wäre. Wenn sie das zweite Opfer geworden wäre und diese Meldung heute in der Zeitung stünde. Ihre Kollegen würden ihr voller
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