Kalte Freundschaft
auf die Idee?«
»Ich weiß nicht. Das ist nur so ein Gefühl.«
»Wahrscheinlich, weil du Joella gekannt hast. Man denkt dann unwillkürlich, man könnte das nächste Opfer sein.«
»Ja, das lässt einen so schnell nicht los.«
Mit einem Mal fühlt Nadine sich ihrer Tochter sehr nah. Von den alltäglichen Spannungen ist nichts mehr zu spüren.
»Warum hast du nie gesagt, was dich umtreibt?«
Langsam streicht Marielle sich das Haar aus dem Gesicht. »Weil du wegen der Sache mit Eelco schon genug Stress hast.«
»Aber das bedeutet doch nicht, dass ich keine Zeit mehr für dich habe! Wenn dich etwas belastet, solltest du es mir sagen, damit ich helfen kann.«
»So schlimm ist es auch wieder nicht. Und helfen kannst du mir ohnehin nicht. Du machst dir doch auch deine Gedanken.«
»Stimmt, aber es ist besser, man spricht darüber, dann fühlt man sich nicht so allein.«
Marielle nickt. Sie holt tief Luft, als wollte sie etwas sagen, lässt es dann aber.
Forschend sieht Nadine sie an. »Was wolltest du sagen?«
»Nichts. Es ist nichts.«
Nadine hakt noch einmal nach, doch Marielle schweigt beharrlich.
Damit es nicht gleich wieder Streit gibt, drängt sie
nicht weiter in sie. »Ich mache Rührei. Für dich auch?«
»Ja, gern. Ich komm gleich runter, will nur noch rasch meine Hotmail checken«, sagt Marielle.
Als Nadine an ihr vorbeigeht, wirft sie einen flüchtigen Blick auf den Bildschirm. Sie sieht Renates Namen und ein paar Worte, die auf eine Verabredung schließen lassen. Nichts Bedenkliches also.
Dennoch ist ihr nicht ganz wohl bei der Sache.
35
Arnout ist hellauf begeistert, als Nadine von ihrer Einladung zum Bücherball erzählt. »Toll«, sagt er. »Da würde ich gern mal Mäuschen spielen und all die berühmten Schriftsteller in natura sehen. Aber man kommt ja nicht so ohne Weiteres rein.«
»Die Karten sind sehr begehrt und werden meist von den Verlagen an ihre Autoren vergeben«, bestätigt Nadine. »Trotzdem drängen sich dort gut vierhundert Leute. Wahrscheinlich stößt man auf Schritt und Tritt mit irgendeinem Promi zusammen.«
»Wenn es sich um hübsche Thrillerautorinnen handelt, würde mir das nichts ausmachen«, grinst Arnout. »Du musst mir hinterher unbedingt erzählen, wie es war. Und Fotos machen! Aber sag mal, wie weit ist es noch?«
Es ist kalt und windig, nur hin und wieder stiehlt sich ein dünner Sonnenstrahl durch die niedrig hängenden Wolken. Nadine will für die Kulturseite einen Artikel über die Wandgedichte schreiben, die viele Fassaden der Leidener Innenstadt zieren. Da Arnout die Route ohnehin einmal abgehen wollte, hat er angeboten, sie zu begleiten.
»Zu meiner Schande muss ich zugeben, dass ich bis vor Kurzem gar nicht wusste, dass es diesen Stadtrundgang überhaupt gibt«, sagt er. »Ich hab zwar manchmal ein Gedicht an einer Hauswand gesehen, mir aber nichts weiter dabei gedacht.«
Seit einer guten Stunde sind sie unterwegs und haben Gedichte in verschiedenen Sprachen in der Breestraat, der Haarlemmerstraat, am Kaasmarkt und in der Hooigracht gesehen. Jetzt stehen sie auf dem Platz vor der mächtigen Pieterskerk.
»Ich friere«, meint Arnout. »Wie viele Gedichte gehören denn noch zu unserer Route?«
Nadine geht nicht auf seine Frage ein, sondern blickt an der Fassade empor.
»Chanson d’automne«, sagt sie und liest dann den französischen Text laut vor, genießt Klang und Rhythmus.
»Schön, nicht wahr?«
Arnout grinst schief. »Ich hab leider kein Wort verstanden.«
Nadine hat die Übersetzungen der Gedichte im Internet recherchiert. Sie holt die Ausdrucke aus der Tasche und liest vor:
Herbstlied
Seufzer gleiten
Die saiten
Des herbsts entlang
Treffen mein Herz
Mit einem schmerz
Dumpf und bang.
Beim glockenschlag
Denk ich zag
Und voll peinen
An die zeit
Die nun schon weit
Und muss weinen.
Im bösen winde
Geh ich und finde
Keine statt …
Treibe fort
Bald da bald dort -
Ein welkes blatt.
Nach den letzten Worten muss sie schlucken. Sie kämpft mit den Tränen. Warum rührt dieses Gedicht sie so sehr an?
Sorgfältig faltet sie das Blatt zusammen und steckt es wieder ein.
»Paul Verlaine«, sagt sie. »Ein französischer Lyriker des neunzehnten Jahrhunderts.«
»Gefällt mir sehr«, sagt Arnout. »Gedichte sind etwas Herrliches, aber allmählich bekomme ich Hunger. Wollen wir eine Kleinigkeit essen? Gleich um die Ecke ist das ›Dartel‹, na, wie wär’s?«
Dort hatte Nadine ihre erste Verabredung mit
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