Kalte Haut
an seine Lippen, trank einen Schluck. »Wie geht es dir, Seray?«, fragte er.
Sera drehte die rechte Hand im Halbkreis, als wollte sie einen Wasserhahn aufdrehen. »Geht so.«
Mergim lächelte mitfühlend. »Deine Tante sagte mir, du hast viel zu tun. Du musstest heute sogar das Frühstück verlassen.«
»Deswegen bin ich hier.«
»Die Frühstückszeit ist aber schon lange vorbei.«
Sera lächelte höflich. »Es geht um den Fall, zu dem man mich gerufen hat.«
»Und wie soll ich dir dabei helfen können?«
»Ich habe Sehmus Gökcan getroffen.«
Ihr Onkel hob die Tasse wieder an. »Ich weiß.«
»Dachte ich’s mir, dass er dich sofort anruft. Was wollte er von dir?«
Mergim trank seinen Tee in ruhigen Schlucken. Für eine Weile tat er so, als folge er dem Geschehen auf dem Bildschirm. In Kurtlar Vadisi bekam Ali Candan vom Staat gerade eine neue Identität verpasst. Als Polat Alemdar wurde er in den inneren Kreis der Mafia eingeschleust. In die Mitte der Wölfe. Kurtlar Vadisi.
»Wusstest du, dass sogar Sharon Stone eine Gastrolle in der Serie hat?«
»Ich habe davon gehört«, sagte Sera.
»Du siehst, die Türkei ist ein offenes Land.«
»Ich habe nie das Gegenteil behauptet.«
»Du weißt auch, dass dein Vater stolz auf dich ist.«
»Ja«, gab Sera knapp zurück.
»Aber es gibt Menschen, die ihn nicht verstehen. Die ihn fragen, wieso er stolz auf so jemanden wie dich sein kann.«
Sera verspürte einen Stich im Herzen. »Auch das weiß ich.«
»Er antwortet ihnen immer, sie brauchen ihn nicht zu verstehen. Sie sollen dich nur respektieren. Du hast dich für dieses Leben entschieden.«
So wie ihr Onkel dieses Leben aussprach, klang es abfällig. Sera wollte ihn fragen, ob es nicht ein Widerspruch war, die offene Haltung der Türkei hervorzuheben, aber im gleichen Atemzug Seras Leben zu kritisieren. Frauen wie du sind schuld. Sie schwieg.
Mergim beugte sich vor, suchte, ohne seinen Blick von ihr abzuwenden, mit einer Hand die Untertasse und stellte die Tasse darauf ab. »Aber genauso musst du respektieren, dass es Leute gibt, die sich für ein anderes, ein frommes Leben entschieden haben. Eins, das die Tugend der …«
»Tugend?« Sera konnte nicht mehr an sich halten. »Was soll es mit Tugend zu tun haben, eine Frau zu töten, nur weil sie ihren Ehemann verlassen hat? Einen Ehemann, der sie jahrelang misshandelte!«
»Seray, ich kenne die Einzelheiten nicht.« Als würde er seine Unschuld beteuern wollen, breitete ihr Onkel die Arme aus.
»Kennst du sie tatsächlich nicht? Oder willst du sie nicht kennen?«
Empört straffte Mergim seinen Körper. Für einen Augenblick blitzte seine frühere Wendigkeit auf. »Bist du gekommen, um deinen Onkel zu beleidigen?«
»Nein, entschuldige.« Sera senkte demütig den Kopf. »Ich bin gekommen, weil ich dich um einen Gefallen bitten möchte.«
»Sprich!«
»Du kennst Sehmus Gökcan. Rede bitte mit ihm. Du musst ihm klarmachen, dass sein Sohn Amiel durch eine Flucht seine Lage nur verschlimmert.«
»Sehmus wird nicht auf mich hören.«
»Aber wenn nicht auf dich, auf wen dann? Du bist Präsident …«
»Vizepräsident!«
»… im Aydinlar Kültür ve Dayanısma Dernegi .«
Als in den späten Achtzigern die einstmals große, einflussreiche türkische Gemeinde Berlins zu zerbrechen begann, hatte sich Mergims Zusammenschluss mit seinen vier Grundpfeilern Religion, Politik, Gesellschaft und Kultur – und in genau dieser Reihenfolge und keiner anderen – als ein Sammelbecken derer erwiesen, die die Fahnen der Tradition schwenkten.
»Ja, sie hören auf mich. Aber nur, weil ich die Wurzeln ihrer Herkunft respektiere.« Ihr Onkel beugte sich zu seinen Latschen hinab und fuhr mit dem Finger über das schwarze Leder. Nachdem er ein unsichtbares Staubkorn entfernt hatte, sagte er: »Verstehst du? Das ist es, was ich dir begreiflich zu machen versuche: Man kann über die Art, wie Sehmus und seine Familie ihr Leben gestalten, denken, wie man will. Aber es ist ihr Wunsch gewesen und …«
»Und wo bleiben die Wünsche von Frauen wie Adile?«
»Was immer auch geschehen ist, es war Amiel, der beschlossen hat, das zu tun, was er für richtig hielt. Sein Vater Sehmus wird diese Entscheidung respektieren. Und ich werde – ob sie mir gefällt oder nicht – Sehmus’ Entscheidung respektieren.«
Mergim meinte es ernst. In seinen Augen glänzte reine, ungebrochene, idiotische Entschlossenheit. Es hätte Sera nicht überrascht, wenn ihr Onkel noch
Weitere Kostenlose Bücher