Kalte Haut
das alles, weil der Bahnvorstand Sparmaßnahmen angeordnet hat.«
»Diese Schlampereien sind auch der Grund für die zwei S-Bahn-Unfälle, bei denen es kürzlich siebenunddreißig Verletzte gab. Es ist nur einem Zufall zu verdanken, dass keine Toten zu beklagen waren.«
»Ja, ja«, machte Bodkema ungeduldig. »So steht es in deinem Text. Trotzdem bin ich froh, dass ich ihn vor der Drucklegung noch gelesen und gestrichen habe. Zum Glück hatten wir Hardys Story über den Ehrenmord in Kreuzberg, mit der wir die Lücke auf der Titelseite füllen konnten.«
»Habe ich dich gerade richtig verstanden?«, wandte Tania ein. »Dir fehlen die Fakten in meinem Text?«
Abermals ließ Bodkema ein verdrießliches Brummen hören. Dann öffnete er die oberste Schublade seines Schreibtischs und holte eine Schachtel Marlboro hervor. »Zigarette?«
»Hab aufgehört.«
»Echt? Wann?«
»Vor zwei Wochen.«
»Respekt.« Er schnippte eine Marlboro heraus, klemmte sie sich zwischen die Lippen und entzündete sie. Nachdem er den Rauch inhaliert und wieder ausgestoßen hatte, umgab der Qualm sein Gesicht wie eine Gewitterwolke, aus der gleich ein Blitz auf Tania hinabfahren würde. »Was ich sagen will: Ein anonymer Zeuge ist absolut in Ordnung, aber das setzt voraus, dass wir Belege für seine Aussagen haben. Kopien dieser unvollständigen, unverständlichen, überholten oder falschen Arbeitsanweisungen zum Beispiel. Haben wir die?«
»Nein.«
»Und deswegen habe ich deinen Text gestrichen. Denn wäre er in der jetzigen Form erschienen, hätten wir längst eine Nachricht von den Anwälten der S-Bahn GmbH erhalten, inklusive einstweiliger Verfügung, Klage und Schadensersatzforderung. Der ganze kostspielige Dreck eben, den die Rechtsverdreher in so einer Situation auffahren. Und wie das bei unseren renditesüchtigen Betriebswirtschaftlern im Verlagsvorstand angekommen wäre, das kannst du dir ja ausmalen.«
Bodkema nahm einen weiteren Zug von der Zigarette.
»Dein Artikel ist gut geschrieben, sogar ein stilistisches Glanzstück, aber inhaltlich besteht er nur aus Behauptungen, für die wir keinerlei Beweise haben – bis auf die Aussage eines anonymen Informanten. Das ist Rufschädigung …«
»Für Rufschädigung sorgt die Bahn doch seit Tagen selbst.«
»Mag sein, aber das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.« Er stieß den Rauch aus und wedelte ihn mit einer raschen Handbewegung fort. »Das sollte ich dir als Journalistin eigentlich nicht erklären müssen.«
Tania schluckte.
Bodkema drückte die Marlboro im Aschenbecher aus, überkreuzte die Arme und beugte sich, die Ellbogen auf den Schreibtisch stützend, vor. »Wenn dein Artikel erscheinen soll, musst du Beweise auftreiben – schwarz auf weiß. Und zwar schnellstmöglich. Am besten noch heute, bevor andere Zeitungen sie finden und uns die Story wegschnappen.«
»Ich kümmere mich darum«, versprach Tania.
Bodkema spitzte die Lippen und zupfte nachdenklich mit den Fingern daran. Sein Blick ging auf Wanderschaft durch das Zimmer, durch den Zigarettenqualm hindurch, glitt über die Wände, an denen Bilder seiner Tochter und seiner Enkelkinder hingen, und weiter über Regale voller Bücher, bis er schließlich wieder an Tania haften blieb.
»Wie geht es dir?«
»Gut«, erwiderte sie.
»Wirklich?«
»Wieso fragst du?«
»Brauchst du vielleicht ein paar Tage Urlaub?«
»Was soll die ganze Fragerei?«
»Wenn du Urlaub brauchst, ist das kein Problem. Jemand anderes könnte diesen S-Bahn-Skandal …«
»Nein!«, fuhr sie auf. »Das ist meine Story. Und nein, ich brauche keinen Urlaub.«
Bodkema neigte skeptisch den Kopf. »Die Sache mit deinem Mann … Wir wissen, dass die Trennung dich belastet.«
»Sie belastet mich nicht«, widersprach Tania.
»Aber sie belastet deinen Mann. Und er wiederum belastet dich.«
Sie schwieg.
»Tania, alle haben inzwischen mitgekriegt, was zwischen dir und deinem Mann läuft. Du bemühst dich zwar, es von der Arbeit fernzuhalten, aber … sie leidet darunter.«
Tania presste stumm die Lippen aufeinander.
»Oder hast du gestern daran gedacht, dir von deinem Informanten die Beweise aushändigen zu lassen?«
Nein, sie hatte nicht daran gedacht. Und ja, das war ein peinlicher Anfängerfehler. Aber allein die Vorstellung, daheim herumzusitzen und nichts zu tun, war unerträglich.
»Ich brauche keinen Urlaub. Ich habe einen blöden Fehler gemacht, aber ich kriege das wieder hin.«
»Das weiß ich«, sagte Bodkema. »Deshalb
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