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Kalte Haut

Kalte Haut

Titel: Kalte Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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Stunden mit Mergim, seiner Frau Özge und deren Kindern verbracht. In Seras Erinnerung war ihr Onkel trotz seines enormen Körpervolumens zu den ulkigsten Verrenkungen fähig gewesen. An lauen Sommerabenden waren sie alle ans Ufer des Landwehrkanals gegangen, der mit seinen Pappeln und Birken einer malerischen Promenade ähnelte und gleich vor seiner Haustür lag. Dort hatte Mergim für die Kinder Köfte und marinierte Lammkeulchen auf dem Mangal, dem Holzkohlegrill, zubereitet. Zum Abschied hatte es immer Lokum gegeben, süße Konfektmasse mit Pistazien, Mandeln und Nüssen.
    Dann war Sera älter geworden, zur Schule gegangen, hatte Abitur gemacht, ihr Studium begonnen und sich, anders als ihre Schwestern, immer seltener mit der Verwandtschaft ihres Vaters getroffen. Anfangs hatte ihr die Uni wenig Zeit dafür gelassen, später der ständige Stress bei der Polizei. Zumindest war das Seras Erklärung ihrem schlechten Gewissen gegenüber gewesen. Aber natürlich waren das nicht die einzigen Gründe.
    »Hosch gel-di-niss!« Ihr Onkel breitete die Arme aus, als er Sera im Hausflur erkannte. »Die Freude ist gekommen.«
    Er war noch immer korpulent, aber in seinem Maßanzug und den nagelneuen Lederschlappen wirkte er wie ein Anwalt oder Geschäftsmann. Seine dunklen Haare trug er sorgfältig gescheitelt. Nichts erinnerte mehr an den Onkel, der liebevoll mit seinen Nichten herumgealbert hatte.
    »Hosch bul-dug, dayi«, entgegnete Sera. »Ich habe die Freude gefunden, Onkel.«
    »Wie geht es dir?« Er umarmte sie und küsste sie rechts und links auf die Wangen.
    »Mir geht es gut, danke, Onkel.« Sie wollte nicht mit der Tür ins Haus fallen.
    Sera entledigte sich ihrer Schuhe und schlüpfte in Plastiklatschen, die unter einer Zimmerlinde paarweise aufgereiht standen. Das Wohnzimmer war vollgestopft mit Häkeldeckchen und goldbestickten Kissen. Gemeinsam setzten sie sich zu einer Wasserpfeife, die am Boden stand. Die goldenen Bilderrahmen an der Wand zeigten neben Aufnahmen aus der Mittelmeerregion Mugla vor allem Fotos unzähliger Enkel, Nichten und Neffen. Es gab auch eine Aufnahme von Sera: Als kleines Mädchen stand sie neben ihren Schwestern Kayra und Deniz.
    Früher hatte Sera das Wohnzimmer ihres Onkels als gemütlich empfunden, als einen Ort, an dem sie sich mit ihren Geschwistern gerne aufgehalten hatte. Jetzt fühlte sie sich unwohl, und das lag gewiss nicht an dem großen, modernen Plasmaschirm an der Wand, auf dem eine Folge von Kurtlar Vadisi lief, eine in der Türkei beliebte Mafia-Soap. Für viele Türken gehörte Fernsehen zur Grundversorgung, und manchen war das TV-Programm der Heimat sogar Verpflichtung.
    Mergim griff zur Fernbedienung, die in eine dünne Folie gehüllt war, und stellte den Ton leiser. Ein Ausschalten kam nicht infrage. Er wartete, bis Özge den Tee serviert und die Caydanlik vor sie abgestellt hatte. Bevor sich die Tante wieder in die Küche begab, zwinkerte sie Sera zu.
    Der Geruch von Mantı stieg Sera in die Nase, eine Speise aus Joghurt und Paprika. Augenblicklich begann ihr Magen zu knurren. Sie hatte seit dem Frühstück nichts Anständiges mehr gegessen, scheute aber davor zurück, sich selbst einzuladen.
    »Ich frage mich, ob es wirklich schlimmer wird.«
    Zunächst wusste Sera nicht, was ihr Onkel damit meinte, dann bemerkte sie auf dem Tischchen neben seinem Sessel die Zeitung vom Vortag, bei deren Lektüre sie ihn mit ihrem Besuch anscheinend unterbrochen hatte. Deren Schlagzeile lautete: Berliner Innensenator fordert hartes Vorgehen gegen kriminelle Ausländer: »Schluss machen mit multikultureller Verblendung!«
    Sie wollte schon zu einer Antwort ansetzen, als sie den Zeigefinger ihres Onkels über einem anderen Artikel kreisen sah. S-Bahn-Desaster: Wird es noch schlimmer?
    »Nun, wenn es nicht besser wird, wird Berlin einen Verkehrsinfarkt erleiden«, sagte Sera.
    »Ich habe heute zwei Stunden bis zur Arbeit gebraucht. Kannst du dir das vorstellen?«
    »Sehr gut sogar.«
    »Da wünsche ich mich gleich wieder zurück in den Urlaub.«
    »Özge erzählte heute Morgen, dass ihr in Mugla gewesen seid?«
    »Ja, du warst auch schon einmal dort.«
    »Als Kind.« Seras hungriger Magen knurrte lauter. Das unverbindliche Geplauder nervte sie, aber die Höflichkeit verlangte es. »Ich kann mich kaum noch daran erinnern.«
    »Die Gegend ist wunderbar. Sie würde dir noch immer gefallen, und deinem Vater würde sie guttun.«
    »Ja, das würde sie bestimmt.«
    Mergim führte die Teetasse

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