Kalte Haut
ein.
Sera stimmte ihm zu. »Wir werden die Observierung der Wohnungen und Häuser fortführen.«
»Schlimme Sache«, sagte Kalkbrenner, nachdem die Sekretärin gegangen war.
»Ja, Kuchen ist für Rita wie …«
»Nein, nicht der Kuchen. Dieser Ehrenmord.«
»Familientragödie!«, verbesserte Sera.
»Wie meinst du das?«
»Tötet ein Türke seine türkische Ehefrau, ist das gleich ein Ehrenmord. Tötet ein Deutscher eine deutsche Frau, nennt man das eine Familientragödie. Warum?«
»Du hast doch selbst die deutsche Staatsbürgerschaft.«
»Du antwortest einfach nicht auf meine Fragen.«
»Du hast ja recht.«
»Womit genau?«
»Sowohl als auch.« Kalkbrenner lächelte. »Vor allem in Bezug auf den Ehrenmord und die …«
»Sera! Sera!« Gesing kam ins Büro gestürmt und stolperte über Kalkbrenners ausgestrecktes Bein. »So eine Scheiße!« Er japste nach Luft, während er sich gleichzeitig bemühte, die Balance zu halten. »Sera, sie haben ihn gefunden!«
34
Tania trat durch das Tor. Jens hielt sich dicht hinter ihr. Im Inneren war das Gebäude ebenso verfallen wie von außen. In einem kleinen Vorraum stand ein zersplitterter Schreibtisch, auf dem Boden daneben fristeten ein ausgeweideter PC und ein implodierter Monitor ihr trauriges Dasein. Die beiden Schränke an der Wand waren von Randalierern unfachmännisch zerlegt worden.
»Sieht nicht so aus, als wäre jemand hier«, flüsterte Jens.
Hinter ihnen raschelte es. Trippelnde Schritte entfernten sich durch den Staub.
»Außer Ratten.«
Zweifel beschlichen Tania. Weibliche Intuition und Reporterinstinkt waren sich einig: Du bist reingelegt worden . Aber aus welchem Grund? Sie lief weiter in die Haupthalle. Vielleicht hatte sich ihr Informant nur verspätet? Was nachvollziehbar ist, wenn er mit der S-Bahn kommt. Sie schmunzelte.
Die Halle war gefüllt mit Unmengen zerbrochener Regale, dem rostigen Skelett eines Gabelstaplers und anderem undefinierbaren, da verwitterten Müll. Das Dach war zum Teil eingefallen. Einzelne Sonnenstrahlen fielen durch den Krater im Gebälk, vertrieben aber nur spärlich die Schatten, die im Gebäude nisteten. In den finsteren Ecken raschelten Nagetiere, die immer wieder fiepende Laute ausstießen.
»Wow!«, entfuhr es Jens. »Das nenne ich ja mal eine abgefahrene Location.«
Er begann Fotos zu schießen. Sein Blitzlicht riss grelle Momente in die Dunkelheit.
Tania ließ ihn gewähren. Wenigstens einer, der zufrieden ist. Sie schlenderte durch die Hinterlassenschaften, die an florierende Zeiten erinnerten. Aber diese lagen lange zurück. Zu lange. Der Kamerablitz enthüllte nichts als Staub, Abfall und Sperrmüll.
Ungeduldig blickte Tania auf die Uhr. Weit mehr als eine Stunde war vergangen, seit der Unbekannte sie angerufen hatte. Inzwischen war sie sich sicher, dass er nicht mehr auftauchen würde. Entweder war ihm etwas dazwischengekommen, oder es hatte sich tatsächlich jemand einen Scherz mit ihr erlaubt.
Zum Beispiel Ralf. Aber nein! Ihr Mann hatte längst den Punkt der Dummejungenstreiche überschritten. Dann vielleicht Karrenbacher? Ja, das passt zu dem alten Scheusal. Wenn ihr Kollege tatsächlich hinter dieser …
»Hey, Frau Herzberg!«, hallte Jens’ Stimme durch das Lagerhaus.
»Was ist?«
»Ich glaube, mehr als einen Penner werden wir heute hier nicht antreffen. Hier in der Ecke ist übrigens einer. Er schläft und …« Die Stimme des Azubis erstarb mit einem Würgen. »Oh, Scheiße!«
»Jens, wo steckst du?« Tania setzte sich in Bewegung.
Der Junge tauchte aus der Dunkelheit auf und gestikulierte wild in Richtung einer hüfthohen Mauer, deren Umrisse sich als Schatten hinter ihm abzeichneten. »Da ist … da …«
»Was ist da?«
Er presste die Hand auf den Mund, stürmte an ihr vorbei, verfing sich in einem Draht und torkelte gegen eine Wand, an der er sich übergab. Das Erbrochene fiel klatschend auf den Boden.
Während er noch immer würgte, schritt Tania in Richtung der schmalen Mauer. Ihr Herz schlug schneller. Ihre Bewegungen wurden langsamer. Sie entdeckte ein nacktes Paar Füße, die hinter der Mauer hervorragten, dann zwei nackte Beine, einen blutigen Oberkörper und – Tania schrie auf, als wie aus dem Nichts ein Schatten neben ihr aufragte.
»Ist das …?« Jens wischte sich die verschmierten Lippen ab.
Tania ging näher an den Toten heran. Sein Körper war übersät mit grauenvollen Wunden und Blut, nichts als Blut. Sein Mund war zu einem nie endenden Schrei
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