Kalte Haut
erstarrt, die Augen waren vor Schmerz weit aufgerissen.
»Ja, das ist er.« Mit grummelndem Magen wandte Tania sich von der Leiche ab. »Jens?«
»Ja?«
»Gib mir eine Zigarette!«
Er drückte ihr die zerknitterten R6 in die Hand. Tania rannte aus dem Gebäude in die blendende Sonne. Sie kam ihr heiß vor, unglaublich heiß. Tania schnappte nach Luft. Die Übelkeit ließ nach, aber den verstümmelten Körper hatte sie noch immer vor Augen, als hätte sich dessen Anblick in die Netzhaut gebrannt.
Tania kramte ihr Handy hervor. Sie brauchte zwei Anläufe, bis sie es in ihrer Tasche zu fassen bekam. Als sie es endlich in der Hand hielt, hörte sie in der Lagerhalle den Verschluss der Kamera klicken. Schaut so aus, als hätte es heute doch noch mit dem Aufmacherfoto geklappt. Sie schmeckte Galle an ihrem Gaumen.
Das herbe Aroma der Zigarette überdeckte den bitteren Geschmack. »Jens!«
Der Azubi stolperte aus dem Gebäude. Er war kreidebleich. »Was ist?«
»Du solltest jetzt verschwinden.«
»Wieso?«
Tania ahnte, was die Polizei unternehmen würde, wenn sie einen Fotografen bei der Leiche vorfand. Aber sie wusste auch, was Bodkema davon halten würde, wenn die Beamten Jens’ Fotos beschlagnahmten. Als künftige Ressortleiterin darf dir so etwas nicht noch einmal passieren.
»Fahr zur Redaktion und gib Bodkema deine Fotos. Beeil dich!«
Sie wartete, bis Jens das Grundstück verlassen hatte, dann wählte sie mit zitternden Fingern den Notruf.
35
»Schmeißfliegen!« Schimpfend lenkte Gesing den Passat in die Revaler Straße. »Gib ihnen eine Leiche, und nach wenigen Minuten schwirren sie in Massen um dich herum.«
»Wovon redest du?«, fragte Sera.
»Na, schau doch selbst!«
Seit ihrem überstürzten Aufbruch vom Polizeipräsidium war noch keine halbe Stunde verstrichen, und trotzdem wimmelte es vor der Zufahrt zur Brache in Friedrichshain von Journalisten. Die Fotografen und Kameramänner unter ihnen hatten bereits die Dächer ihrer Pkws erklommen, von wo aus sie sich um Bilder vom Geschehen hinter der Polizeiabsperrung bemühten. Auch auf der Modersohnbrücke, die hundert Meter weiter über den Bahndamm führte, blitzten Objektive in der Mittagssonne auf.
Sogar ein Eisverkäufer hatte sich eingefunden. Aus dem Kübel seines bunt bemalten Fahrradanhängers versorgte er die Reporter mit kühlen Snacks.
Gesing parkte den Wagen am Straßenrand. »Wie finden diese Aasgeier das bloß immer so schnell heraus?«
»Was denn jetzt: Schmeißfliegen oder Aasgeier?«
»Als wenn das eine Rolle spielen würde.«
Stimmt! In Seras Kopf kreisten ganz andere Gedanken, um ein Vielfaches unangenehmer als das ganze Reporterpack. Sie wehrte sich dagegen – vergeblich. Das alles gefällt mir nicht!
»Was ist los?« Blundermanns breiter Schädel tauchte neben dem Beifahrerfenster auf. Er war ihnen mit einem zweiten Einsatzfahrzeug gefolgt. »Worauf wartet ihr noch?«
»Auf den echten George Clooney.« Gesing zog den Zündschlüssel. »Der würde uns wenigstens die Presse vom Hals halten.«
»Ich gebe mein Bestes«, versprach Blundermann und schlug ihnen mit seinem hünenhaften Körper eine Schneise durch die Journalistenmeute. Doch vor deren Fragen, die in wilden Wortkanonaden auf sie einprasselten, konnte er sie nicht bewahren.
»Ich habe gehört, es ist …?«
»Ist es richtig, dass …?«
»Wissen die Eltern schon …?«
»Wie ist die Reaktion des …?«
»Wer, glauben Sie, steckt hinter …?«
Das Durcheinander nahm erst ein Ende, als die drei Polizisten die Absperrung hinter sich ließen. Während sie über die Kieseinfahrt auf das Grundstück schritten, wischte sich Gesing mit einem Taschentuch fluchend Stracciatella-Eis von seiner Jacke. Blundermann sprach unterdessen mit einem Streifenbeamten, der sich um eine junge Frau sorgte. Inmitten von Bauschutt und Unkraut kauerte sie auf einem ausgeweideten Sofa. Der Schock stand ihr ins Gesicht geschrieben. Nervös zog sie an einer Zigarette.
»Das ist Tania Herzberg«, erklärte Blundermann, als er zurückkehrte. »Journalistin beim Kurier . Sie hat die Leiche gefunden.«
Sera nahm das Gelände in Augenschein. Es lag nicht erst seit gestern brach. »Und was hat Frau Herzberg ausgerechnet heute in diese Ruine verschlagen?«
»Sie hat einen Anruf erhalten. Man versprach ihr wichtige Informationen für ihre Recherchen. Das Treffen sollte hier stattfinden. Aber anstelle eines Informanten fand sie, na ja …« Blundermann wies beklommen zum
Weitere Kostenlose Bücher