Kalte Haut
hatte. »Sie haben sich keine Sorgen gemacht, als Frank nicht nach Hause kam?«
Jasmin atmete durch. »Wir dachten, dass er vielleicht unterwegs noch Freunde getroffen hat …«
»… und mit ihnen auf einer After-Hour-Party gelandet ist«, ergänzte Gerlinde.
»Ohne Ihnen Bescheid zu geben?«
»Das wäre …« Jasmin putzte sich die Nase. »Das wäre nicht das erste Mal gewesen.«
»Deshalb haben wir uns schlafen gelegt«, sagte Gerlinde. »Bis um … um ein Uhr mittags unsere Freunde anriefen. Sie waren ganz aufgeregt und haben uns von diesem … diesem schrecklichen Video erzählt.«
Gesing kam zurück ins Wohnzimmer. Er machte ein Zeichen zur Tür. Es ist wichtig. Sera verabschiedete sich schnell von den beiden Frauen.
Im Treppenhaus klärte ihr Kollege sie auf: »Das war gerade Dr. Salm. Er konnte dich nicht erreichen.«
Sera schaltete ihr iPhone wieder ein. Annecim hatte es ein drittes Mal versucht, und auch ein Anruf vom Chef war eingegangen. Außerdem wartete Gerrys SMS noch immer auf Beantwortung.
»Was wollte er?«
»Er meinte, wir sollen sofort zu dem Lagerhaus in die Revaler Straße zurückfahren.«
»Und wozu?«
»Das hat er nicht gesagt.«
42
Robert hatte gehofft, Hagen würde ihm die Frage ersparen. Warum bist du damals abgehauen? Aber nun, da er sie ausgesprochen hatte, wunderte es ihn, dass sein Freund ihn erst so spät damit konfrontierte. Plötzlich fühlte Robert sich wieder müde und ausgelaugt.
»Es war eine Chance«, erklärte er.
»Eine Chance?«
»Ja, eine berufliche Chance.«
Hagen wirkte nicht überzeugt. »War das der einzige Grund?«
Robert löste sich von der Stereoanlage und ging zu dem alten, englischen Sekretär hinüber. Eins der Fotos auf dem Kabinett zeigte seine Mutter. Irjendwann jehen die Eltern von uns. Det is normal im Leben, wa? Ein anderer Bilderrahmen enthielt eine Aufnahme von Max, wenige Wochen vor seiner Abiturprüfung. Damals hatte er sein Haar noch kürzer getragen, was seinem Gesicht einen noch strengeren Ausdruck verlieh. Schon als er jung war, hatte er, wenn ihm etwas zuwider war, die Hände stur in seinen Manteltaschen vergraben.
Robert entnahm seiner Jacke die vergilbte Aufnahme aus der Ruine in Ruhleben. Er lehnte sie gegen den Sekretär, dann drehte er sich langsam um, setzte zu einer Erklärung an.
Hagen kam ihm zuvor. »Wovor bist du geflohen?«
»Ich bin nicht geflohen.«
»Also, auf mich hat das …« Das neuerliche Klingeln des Praxistelefons brachte Hagen zum Verstummen. Er betrachtete den kleinen, glänzenden Schlüsselanhänger in seiner Hand.
Robert wartete, bis das Läuten aufhörte. »Es ging nicht anders.«
»Es geht immer anders.«
»Damals nicht.«
»Du hättest nur ein Wort sagen müssen. Ich hätte dir geholfen.«
» Dabei hättest du mir nicht helfen können. Ich wollte … Ich musste verstehen, wie die Menschen ticken.«
»Ich dachte, das wäre dir längst gelungen. Deswegen hast du doch Verhaltensforschung und Psychologie studiert.«
»Es hat nicht funktioniert. Oder nur bis zu einem gewissen Grad.« Robert lauschte den verträumten Melodien von Tangerine Dream, die sich aus den Lautsprechern woben, ohne jedoch die vertraute, entspannende Wirkung zu entfalten. »In den Staaten konnte ich Dinge …«
»Dinge?«
»… Menschen … Gewalttäter, Verbrecher, Mörder studieren, von deren Psyche man sich hierzulande keine Vorstellung machen kann.«
»Das ist doch krank!«
»Nein, das ist eine Gelegenheit, die nicht jeder bekommt.«
Hagens Finger krampften sich um seinen Schlüsselanhänger. »Falls du es vergessen hast: Du warst nicht der Einzige, der gelitten hat.«
»Es tut mir leid, wenn ich dich …«
»Es geht nicht um mich!«, warf Hagen ein. »Es geht um Bo.«
Was ist mit Bo? Hast du dich bei ihr …? »Was hat sie damit zu tun?«
»Das fragst du mich noch?«
Robert holte Luft. Schön, dass du wieder hier bist. »Warum bist du vorbeigekommen, Hagen? Um mir Vorwürfe zu machen?«
»Nein, weil wir miteinander reden müssen.«
»Wir reden die ganze Zeit.«
» Ich muss mit dir reden.«
»Ich höre.«
»Es stimmt nicht ganz, was ich vorhin zu dir gesagt habe.« Hagen schob den Schlüsselanhänger zurück in die Hosentasche und faltete die Hände wie zum Gebet in seinem Schoß. »Es hat sich einiges verändert.«
»Ja, vier Jahre sind eine lange Zeit.«
»Und in dieser Zeit … Ach, verdammt!« Hagen warf die Hände empor, weil das klingelnde Telefon abermals seinen Redefluss gestoppt hatte.
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