Kalte Haut
deutete nur auf die Metallbahre, auf der sich unter weißem Leinen die Konturen eines Körpers abzeichneten. »Ist das Lahnsteins Sohn?«
Während der Arzt sie zu der Bahre begleitete, streifte er sich einen Einweghandschuh über. Mit der geschützten Hand tastete er nach dem Tuch, zog es aber noch nicht fort. »Ich bin gespannt auf Ihr Urteil, Dr. Babicz.«
»Schlimmer als das, was ich in Quantico gesehen habe, kann es nicht sein.«
»Ich wäre mir da nicht so sicher«, meldete sich Muth.
»Ich habe etwas anderes gemeint.« Dr. Wittpfuhl zog das Leinen beiseite, langsam wie ein Zauberkünstler, der einen Vorhang vor dem gespannten Publikum hob.
Die Kommissarin sog hörbar die Luft ein. Und das, obwohl sie den Toten schon einmal gesehen hat . Oder was von ihm übrig geblieben war.
Robert war keine äußerliche Reaktion anzumerken. Sein Magen dagegen rumorte. »Erzählen Sie.«
»Da ich bisher nur die äußere Leichenschau vorgenommen habe, kann ich Ihnen natürlich nichts Endgültiges sagen«, begann der Gerichtsmediziner. »Aber einiges ist, nun ja, offensichtlich.« Er ging zur Seite der Metallbahre und breitete die Arme aus. Seine Hände schwebten wie die eines Magiers über den Extremitäten des Toten. »Dem jungen Mann wurden Arme und Beine fixiert, was die Striemen erklärt, die Sie hier und hier erkennen können. Die Lederfesseln haben tief in seine Haut geschnitten, während er sich dagegen wehrte, dass man ihm, vermutlich mit einem Holzhammer, die Hände und Füße brach – obwohl er davon nicht sehr viel gespürt haben dürfte.«
»Er war betäubt?«
»Eine erste Blutprobe erbrachte Hinweise auf ein Gemisch aus Ecstasy und Kokain. Auch Rückstände lokaler Anästhetika, sogenannter Aminoamide, konnten festgestellt werden. Deren Wirkung tritt zügig ein, lässt aber ebenso schnell wieder nach – nach etwa dreißig bis sechzig Minuten.«
»Sollte er überleben?«, fragte Muth.
»Angesichts dessen, was danach mit ihm geschehen ist, neige ich zu der Vermutung, dass er nur lange genug überleben sollte.«
»Und leiden«, fügte Robert hinzu.
»Ja, darum ging es wohl. Das Opfer sollte Schmerzen empfinden. Große Schmerzen. Und so wie es aussieht«, Dr. Wittpfuhl umkreiste die Bahre, bis er an ihrem Kopfende stand, »hat der junge Mann furchtbar gelitten. Der Täter scheint wie von Sinnen vorgegangen zu sein.«
»Könnten es auch mehrere Täter gewesen sein?«, warf die Kommissarin ein.
»Ausschließen möchte ich das nicht. Aber egal, ob ein oder mehrere Täter, die Brutalität, die angewandt wurde, zeugt …«
»… von einer ziemlichen Wut«, beendete Robert den Satz.
Der Gerichtsmediziner breitete das Laken wieder über die Leiche. »Aber – zum Glück, möchte man fast sagen – wurden die Schmerzen übermächtig, als die Wirkung des Anästhetikums nachließ. Der Mann erlitt einen Schock und verlor das Bewusstsein. Schließlich ist er am Blutverlust gestorben.«
»Das ist tatsächlich schlimmer, als ich erwartet hatte. Allerdings …« Robert war leiser geworden.
»Allerdings?«, wiederholte Muth.
Dr. Wittpfuhl lächelte. »Verstehen Sie, worauf ich hinauswill?«
»Ja, Sie haben recht«, antwortete Robert. »Die Parallele ist … erstaunlich.«
45
Schon seit dem Mittag hatte Sera mit einem unguten Gefühl gekämpft. Jetzt kam auch noch Gereiztheit hinzu – die ständigen Andeutungen der beiden Ärzte frustrierten sie.
»Dr. Babicz, was wollen Sie damit sagen?«, fragte sie. »Welche Parallele ist erstaunlich?«
Der Psychologe reagierte nicht. Er war in sich gekehrt, dachte nach. Worüber? Sera sah Hilfe suchend zu Dr. Wittpfuhl, doch der streifte sich nur das Latex von der Hand und beförderte es in einen Mülleimer, dessen Klappe er geräuschvoll mit dem Fuß öffnete.
Babicz ging langsam zum Ausgang des Obduktionssaals. »Es gab da einen Fall in den USA. Einen Serienmörder.«
»Der Knochenmann«, warf der Gerichtsmediziner ein.
Der Psychologe verzog abfällig den Mund. »Er hieß Andrew Jacobs.«
»Der Knochenmann?« Sera hatte noch immer keinen blassen Schimmer, worüber die beiden Männer sprachen.
Babicz verharrte einige Sekunden vor der Tür zum Korridor. Es hatte nicht den Anschein, als würde er sich weiter erklären wollen. Stattdessen hielt er die Hände ineinander verschränkt und knetete unablässig seine Finger, als stimmte ihn etwas nervös.
»Sie werden’s ohnehin über ViCLAS herausfinden«, sagte Dr. Wittpfuhl.
ViCLAS war die Abkürzung für
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