Kalte Haut
umarmte er seine Nichte und küsste ihre Wangen. »Die Freude ist gekommen.«
»Hoş bulduk, dayı.« Sera ließ die Begrüßung über sich ergehen. »Ich habe die Freude gefunden, Onkel.«
»Nasılsınız?« Er gab ihr ein Zeichen, ihm ins Wohnzimmer zu folgen. »Wie geht es dir?«
»Kendimi hiç iyi hissetmiyorum.« Sera streifte ihre Schuhe von den Füßen und schlüpfte in die bereitstehenden Plastikschlappen. »Mir geht es nicht so gut.«
Die Antwort folgte nicht den gewohnten Regularien, doch ihr Onkel ging mit einem nachsichtigen Nicken darüber hinweg und ließ sie vor einem dritten Teegedeck Platz nehmen. Die Tasse und der Teller standen auf dem Wohnzimmertisch, als hätten Mergim und Tante Özge Seras Besuch erwartet. Demnach war seine Überraschung nur geheuchelt. Ihre Mutter hatte sie wahrscheinlich angekündigt. Wenn es daran noch einen Zweifel gab, bereinigte ihn der große Flatscreen-Fernseher –er war ausgeschaltet.
»Seray!« Mergim lächelte zufrieden. »Dein Vater hat also mit dir geredet.«
»Nein.«
»Nein?« Erstaunt schlug er die Beine übereinander und wippte mit seinen nagelneuen Lederschuhen. »Also bist du nicht gekommen, um dich …?«
»Nein!«
Mergims Lächeln gefror. Verärgerung glitt über sein Gesicht. »Weshalb dann?«
»Weil wir noch einmal miteinander reden müssen.«
»Wenn es wegen der Gökcans ist, dann habe ich dir gestern …«
»Nein, Onkel, nicht wegen der Gökcans. Damit habe ich nichts mehr zu tun.« Auch Sera konnte ihren Groll nicht länger verbergen. »Hast du dir heute schon die Nachrichten angeguckt?«
»Dazu hatte ich noch keine Zeit. Der Fernseher war heute noch nicht an.«
Er lügt! Die rote Stand-by-Diode glomm noch rechts unten am TV-Gerät. Der Monitor knisterte statisch. »Das wundert mich. Du bist doch sonst immer so gut informiert.«
Ihr Onkel senkte den Blick, inspizierte seine Pantoffeln. Keinerlei Schmutz war auf ihnen zu entdecken, nicht einmal ein Stäubchen. Seine Miene allerdings war so düster, als hätte er daumennagelgroße Löcher entdeckt.
»Frank Lahnstein, der Sohn des Innensenators, ist ermordet worden.«
Mergim blickte nicht auf, aber Sera wusste, dass er sie gehört hatte.
»Das ist schlimm, findest du nicht?«
»Bist du gekommen, um mir das zu erzählen?« Seine Stimme gewann an Schärfe. Er hob sein Gesicht.
»Ich leite die Ermittlungen in diesem Mordfall, Onkel. Noch habe ich keine Ahnung, was tatsächlich vorgefallen ist. Aber ich weiß, dass seit einigen Stunden Beamte in den Ausländervereinen und -organisationen dieser Stadt unterwegs sind. Sie befragen Funktionäre und Mitglieder, suchen nach Hinweisen, Spuren und möglichen Verdächtigen. Ich bin hier, weil ich nicht irgendwann erfahren möchte, dass …« Sera verstummte.
Plötzlich war ihr Mund staubtrocken. Zweifel überfielen sie. Warum bist du hergekommen? Doch für Reue war es nun zu spät.
Also sagte sie: »Diese Politik sollte mit allen Mitteln verhindert werden.«
»Was soll das heißen?«
»Mit diesen Worten hat Osman Alpzoman auf die Forderungen des Innensenators reagiert. Alpzoman ist der Präsident deines Aydinlar Kültür ve Dayanısma Dernegi .«
Onkel Mergims Gesicht färbte sich zornig rot. »Was spielt das für eine Rolle?«
»Eine verdammt große, wenn ich …«
»Seray, ich sagte dir schon gestern, dass du ohne Respekt mit mir redest.«
»Nein, gestern Abend hast du zu mir gemeint …«, Sera sog Luft in ihre Lungen, »mir scheint, jemand wollte ein Exempel statuieren.« Sie stieß den Atem wieder aus. »Du hast gemeint, der Senator wüsste nicht, wie es ist, ein Kind zu verlieren.«
Wutentbrannt sprang ihr Onkel vom Sessel auf. »Seray, verlasse sofort dieses Haus!«
»Onkel …«
»Ich sagte, verlasse mein Haus!«
Sera erhob sich. Sie zitterte. Unten auf dem Bürgersteig blieb sie stehen. Schwere Wolken waren aufgezogen und verhüllten die Sterne.
Was um alles in der Welt hatte sie sich von dem Gespräch mit ihrem Onkel erhofft? Etwa ein Geständnis, dass sein Verein in den Tod des jungen Lahnstein verwickelt war? Dass Mergim womöglich sogar selbst seine Finger im Spiel hatte? Der Verdacht war aberwitzig. Aber was heißt hier Verdacht? Es war nur eine Vermutung. Eigentlich nicht mal mehr als ein schlimmer Gedanke. Schlimm genug!
Im Auto überfiel Sera die Erschöpfung. Sie steckte den Schlüssel in die Zündung, wollte aber nicht starten und nach Hause fahren. Was erwartete sie dort? Leere. Sie drehte das Radio auf.
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