Kalte Herzen
Konserven verbraucht. Ich bin erst um sieben rausgekommen.«
»Hat er es geschafft?«
»Nein. Am Ende haben wir ihn verloren.«
»Das tut mir leid.« Sie machte die Tür des Garderobenschranks zu. »Ich bin irgendwie müde. Ich glaube, ich nehme ein Bad.«
»Abby?«
Sie blieb stehen und sah ihn an. Sie waren durch die gesamte Breite des Wohnzimmers voneinander getrennt, doch die Luft zwischen ihnen schien noch um Meilen weiter.
»Was ist mir dir passiert?« fragte er. »Was ist los?«
»Du weißt, was los ist. Ich mache mir Sorgen um meinen Job.«
»Ich rede von uns. Irgendwas stimmt mit uns nicht.«
Sie antwortete nichts.
»Ich sehe dich kaum noch. Du bist öfter bei Vivian als hier.
Und wenn du zu Hause bist, verhältst du dich, als ob du mit den Gedanken woanders wärst.«
»Die Sache beschäftigt mich eben. Kannst du das nicht verstehen?«
Er ließ sich in die Couch zurücksinken und sah auf einmal sehr müde aus. »Ich muß es wissen, Abby. Triffst du dich mit einem anderen?«
Sie starrte ihn an. Von allen Dingen, die Mark zu ihr hätte sagen können, hatte sie diese Frage am wenigsten erwartet. Sie hätte beinahe laut losgelacht, so banal war sein Verdacht. Wenn es doch nur so einfach wäre. Wenn wir nur die gleichen Probleme hätten wie jedes andere Paar auch, dachte sie.
»Es gibt keinen anderen«, erklärte sie, »glaub mir.«
»Warum redest du dann nicht mehr mit mir?«
»Ich rede doch jetzt mit dir.«
»Das ist kein Reden! Es ist mehr, als würde ich versuchen, die alte Abby zurückzubekommen. Ich muß sie irgendwo unterwegs verloren haben. Ich habe dich verloren.« Er schüttelte den Kopf und wandte den Blick ab. »Ich will dich einfach nur wiederhaben.«
Sie ging zu dem Sofa und setzte sich neben ihn. Nicht so nahe, daß sie sich berührten, aber nahe genug, um sich verbunden zu fühlen, wenn auch auf Distanz.
»Rede mit mir, Abby. Bitte!« Er sah sie an, und auf einmal erkannte sie den alten Mark wieder. Dasselbe Gesicht, das sie über den OP-Tisch hinweg angelächelt hatte, das Gesicht, das sie liebte. »Bitte«, wiederholte er leise. Er ergriff ihre Hand, und sie zog sie nicht weg. Sie ließ sich sogar von ihm in die Arme nehmen. Doch selbst dort, wo sie sich einst so sicher gefühlt hatte, konnte sie sich nicht entspannen. Sie lehnte steif und linkisch an seiner Brust.
»Sag es mir«, forderte er sie auf, »was ist mit uns beiden los?«
Sie schloß die Augen und spürte das Brennen frischer Tränen.
»Nichts ist los«, erwiderte sie.
Sie spürte, wie seine um ihren Körper geschlungenen Arme ganz still wurden. Ohne ihm ins Gesicht zu sehen, wußte sie, daß er wußte, daß sie schon wieder log.
Am nächsten Morgen fuhr Abby um halb acht auf den Parkplatz des Bayside Hospital.
Sie blieb eine Weile im Wagen sitzen und starrte auf das feuchte Pflaster und in den Dauerniesel. Es war erst Mitte Oktober, und schon spürte man den ersten grauen Vorgeschmack des Winters. Abby hatte nicht gut geschlafen.
Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal gut geschlafen hatte. Wie lange konnte ein Mensch ohne Schlaf durchhalten? Wie lange dauerte es, bis aus der Erschöpfung eine Psychose geworden war? Als sie in den Rückspiegel blickte, erkannte sie die ausgezehrte Fremde, die ihr entgegensah, kaum wieder. Ihr war, als wäre sie in zwei Wochen um zehn Jahre gealtert. Wenn sie so weitermachte, würde sie bis zum November in den Wechseljahren sein.
Ein brauner Schatten im Spiegel sprang ihr ins Auge.
Sie riß den Kopf herum und sah den Van gerade noch hinter der nächsten Reihe geparkter Wagen verschwinden. Sie wartete, doch er tauchte nicht wieder auf.
Ihr Herz hämmerte in der Brust. Es beruhigte sich erst wieder, als sie das Gebäude betreten hatte. Sie nahm die Treppe in den Keller und betrat das Archiv. Dies sollte ihr letzter Besuch werden; auf der Liste waren nur noch vier Namen übrig.
Sie legte den Ausleihzettel auf den Tresen und sagte:
»Verzeihung, kann ich bitte diese Akten haben?«
Die Sachbearbeiterin drehte sich zu ihr um. Vielleicht bildete Abby es sich nur ein, doch sie hatte das Gefühl, die Frau wäre kurz zusammengezuckt. Sie hatte schon öfter mit ihr zu tun gehabt, und sie hatte jedesmal einen recht freundlichen Eindruck gemacht. Heute morgen lächelte sie nicht einmal.
»Ich brauche diese vier Akten«, wiederholte Abby.
Die Sachbearbeiterin studierte den Ausleihzettel. »Tut mir leid, Dr. DiMatteo. Ich kann Ihnen diese Akten nicht
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